Ganz unten!

Beim Aufsammeln der ungezählten Blätter schweiften meine Gedanken in jene Zeit ab, als ich zum Laub fegen eingeteilt und bei der Bundeswehr meine letzten Tage zählen durfte. Es war der Spätherbst des Jahres 1973. Ab November war beim freitäglichen Stuben - und Revierreinigen, auch Laub fegen angesagt, besser formuliert: Es wurde befohlen! Nun, die eine Art sich vor dieser lästigen Arbeit zu drücken, war, das der Dienststellenvorgesetzte in der Geschäftsstelle der Stammkompanie anrief und schlankweg behauptete, er benötige mich noch in der Dienststelle. Eine andere Variante war, sich bei dieser Arbeit so einteilen zu lassen, dass der Besen und andere Gerätschaften möglichst weit entfernt von mir standen.

Auch ich habe diese unangenehme Pflicht schadlos überstanden.

Was bald 37 Jahre her sein wird, gestaltet sich für den zum Laub kehren abkommandierten HARTZ IV-Empfänger indes weniger lustig. Während ich immerhin für meine Künste im oliv-grünen Arbeitsanzug ( so hieß die Dienstkleidung bei der Bundeswehr damals  noch mehr als 1,-- € bzw 1,50 € je Stunde erhielt, nämlich umgerechnet 3,55 € brutto, hat der SGB II-Alimentierte für die gleiche Arbeit auch nach 37 Jahren wesentlich weniger im Portemonnaie. Und dennoch reißen sich tausende von so genannten " HARTZERN " um die eher wenigen Jobs dieser Art. Da sage doch noch ein Schlaumeier in den Worten des Oberdruiden der Gruppe der Mühsam und Beladenen, unseres sinnfälligen Wanderpredigers wider der germanischen Selbstabschaffung, Dr. Thilo Sarrazin, die " HARTZER " seien faul. Mit nichten, sind sie es Alle!

Noch ärger trifft es den von der Staatsgewalt zu einer Geldstrafe verurteilten Missetäter, wenn er diese nicht aufbringen kann und Ratenzahlungen auch nicht möglich ist. dann, ja dann, muss jene Strafe durch so genannte gemeinnützige Arbeit abgeleistet werden. Für diese Deliquenten gilt: Je Tagessatz = 1 Tag gemeinnützige Arbeit. 
Da hatte sich dann vor 6 Jahren ein gelernter, inzwischen wohl verarmter Landwirt, eben diese Möglichkeit der Straftilgung auserkoren. Das bedeutete für den Bauern, dass er dieses Mal nicht eine Frau sucht, sondern eine entsprechende Institution, die als gemeinnützig gilt und zudem auch noch Arbeit anbietet. Gesucht, gefunden, abgeleistet. Was da als Stundenlohn heraus kommt richtet sich allerdings nach dem zuvor zugrunde gelegten Einkommen. Bei einem Landwirt dürfte das im Jahre 2003 bei 1.800,-- € gelegen haben. Teilt man dieses durch 30 Tage, ergibt sich hieraus ein Tagessatz von 60,-- €.  So wäre eine Trunkenheitsfahrt bei 1,4 Promille mit 30 Tagessätzen zu 60,-- €, also mit 1.800,-- zu bestrafen.

So saß denn der Landwirt über diesen Strafbefehl und grübelte nach,ob er das Geldstrafe tatsächlich bezahlen kann. Er kam zu dem Ergebnis, dass es ihm nicht möglich war. Schließlich machte diese ein gesamtes Monatseinkommen aus. Also entschloss er sich, die gemeinnützige Arbeit zur Straftilgung aufzunehmen. Tja, da stand er nun mit Schaufel, Besen und Karre und fegte, was das Zeug her gab Von morgens um 9.00 Uhr bis nachmittags um 16.00 Uhr. Zwischenzeitlich erhielt er 1 Stunde Mittagspause, die natürlich nicht auf die Arbeitszeit angerechnet wurde. Dann aber kommt der große Haken. Am Freitag war bereits um 13.00 Uhr offizielles Arbeitsende. Womit sich dann folgendes Problem auftat:
Angerechnet werden 6 Stunden gemeinnützige Arbeit auf einen Tagessatz oder einen Tag Ersatzfreiheitsstrafe. Deshalb verlängerte sich die Zeit, in der der verarmte Landwirt nun Reinigungsdienste zu erledigen hatte um weitere Wochen, nämlich wie folgt:

30 Tage a'6 Stunden = 180 Stunden
180 Stunden : 28 Stunden/Woche = 6 Wochen und 2 Tage

Und weil der Bauer mit seinem Los nicht einverstanden war, wollte er diese behauptete Ungerechtigkeit durch das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe überprüft haben wissen. Da bekam der Landwirt eine Abfuhr.  Das oberste Gericht der BRD sagte einfach: " 30 Tage können eben dann 32 Tage sein, wenn ein Tag eben nur 4 statt 6 Stunden Fronarbeit vorsieht. So einfach ist das eben!

Der Bauer fühlte sich deshalb ganz unten!

Dorthin muss sich auch eine Bäckereifachverkäuferin zurück versetzt fühlen, wenn sie ihre monatliche Verdienstabrechnung erhält. Für jene - nach dem Wortungetüm,dass eigentlich eine gut dotierte Funktion vermuten lässt - erlernte Tätigkeit gibt es - je nach Tarifgebiet folgende Entgelte:

Bäckerei-Fachverkäufer/in





1256,-- brutto


jeweils in € ob Tarif Ost/West/Frau/Mann.


Und weil es so schön ist, gleich einmal hierzu den Nettoverdienst:



Jahr 2010 Monat
Brutto-Arbeitslohn: 15.072,00 1.256,00
Lohnsteuer: 643,00 53,58
Solidaritätszuschlag: 0,00 0,00
Kirchensteuer: 0,00 0,00
Krankenversicherung: 1.190,69 99,22
Pflegeversicherung: 184,63 15,39
Rentenversicherung: 1.499,66 124,97
Arbeitslosenversicherung: 211,01 17,58
Netto-Arbeitslohn: 11.343,01 945,25 







Jetzt stellt sich die Frage, ob dieses Einkommen zum Leben oder besser zum Überleben ausreicht? Mitnichten! Dass lässt sich schon allein an der nachstehenden Berechnung erkennen:

1. Nettoverdienst       945,25 €

2. Miete                       360,00 €

3. Fahrtkosten             30,00 €

4. Versicherungen        6,00 €

Verbleiben:                549,25 €

Damit hat der/die Arbeitnehmer/in 18,05 € je Tag zur Verfügung. Zu wenig zum Leben, doch zu viel zum Sterben?

Das damit die SGB II-Regelungen zum ergänzenden Lebensunterhalt greifen, ist ebenso klar, wie die berechtigte Forderung nach Einführung eines Mindestlohns.

Oder wäre es denkbar, das die " Tigerenten " - Koalition doch tatsächlich noch Überlegungen anstellen sollte, eben jenen 1,3 Millionen " Aufstockern " einen Zusatzverdienst zu ermöglichen, indem sie im Herbst zum Laub kehren nach Feierabend eingeteilt werden? Zuzutrauen wäre es den Gurken in Berlin alle Male.

Ganz unten?

Und da im Jahre des Anti-Mulit-Kulti -  Wanderpredigers SarrazinPrekariat,sich medial zwar nur um das Geld drehen, bleibt ein anderer Aspekt des " Ganz Unten " häufig unerwähnt: die des mangelnden Selbstbewusstseins.
Dieses sinkt mit jener Sanktion durch die Agenturen und mit jeder Absage einer Bewerbung um eine Arbeitsstelle, auch wenn der absolute Sinkflug bereits vom Zeitpunkt der Kündigung bis zum Bezug von Leistungen nach dem SGB I bereits begonnen hatte.

So kommt mir das Sachbuch des " Enthüllungsjournalisten " Günter Wallraff in Erinnerung. Wie war ab dem 01.10.1985 in seinem zu diesem Zeitpunkt erschienen Buch zu lesen:


„Sicher, ich war nicht wirklich ein Türke. Aber man muss sich verkleiden, um die Gesellschaft zu demaskieren, muss täuschen und sich verstellen, um die Wahrheit herauszufinden.
Ich weiß immer noch nicht, wie ein Ausländer die täglichen Demütigungen, die Feindseligkeiten und den Hass verarbeitet. Aber ich weiß jetzt, was er zu ertragen hat und wie weit die Menschenverachtung in diesem Land gehen kann.
Ein Stück Apartheid findet mitten unter uns statt – in unserer „Demokratie“.
Die Erlebnisse haben alle meine Erwartungen übertroffen. In negativer Hinsicht. Ich habe mitten in der Bundesrepublik Zustände erlebt, wie sie eigentlich sonst nur in den Geschichtsbüchern über das 19. Jahrhundert beschrieben werden.“
-  Zitatende  -

Das Werk schildert, wie Günter Wallraff in der Rolle des Türken Levent (Ali) Sigirlioğlu (in späteren Ausgaben Sinirlioğlu genannt) in Deutschland verschiedene Arbeiten annimmt und dabei vielerorts Ausbeutung, Ausgrenzung, Missachtung und Hass erfährt.
Wallraff schreibt im Vorwort zu seinem Buch, für das er ab März 1983 zwei Jahre lang recherchierte. "Ganz unten " ist auch nach 25 Jahren ein immer noch aktuelles Werk. Ein Stachel im Arsch der BRD-Spießer und ihrer nie abgelegten - oft nur latenten - Ausländerfeindlichkeit.
Es ist ein Anti- Sarrazin - Buch, lange bevor der HARTZ IV - Selbstversuch-Demagoge und Abschaffungstrommler seine Traktate geschrieben hat.


Was einst dem Autor Günter Wallraff das gesamte Vokabular an Beleidigungen, Beschimpfungen und Denunziationen einbrachte, von denen, die ihren faschistoiden Grundanstrich nur durch den eigenen Konsum verkleisterten,wird heute von dieser Bagage nun als Ovationen für den Lügenbold Sarrazin umgemünzt.


http://de.wikipedia.org/wiki/Ganz_unten

Kommentare

Octapolis hat gesagt…
Einer wie Sarrazin gehört doch eigentlich ins Heim, oder wenigstens zum Arzt. Aber das hält die bundesdeutsche Leserschaft nicht davon ab, ihn zum Bestseller-Autor zu machen. Solche Leute kämen keine drei Tage mit den paar Groschen aus, die sie anderen zumuten.
Lobster53 hat gesagt…
So ist es,Octa! Nur: Wir haben es erkannt, andere neben uns wohl auch; der Rest der Masse bleibt blöd und gibt sich solchen Schwachmaten hin. Irgendwo her kennen wir das doch Wie war das gleich,mit 1932????

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