Insel des Grauens.



Der profane Jurist, die universelle Juristin und die gesamte Jurisprudenz haben schon ihre Eigenarten. Nicht von ungefähr nimmt der hier ausgebildete und später vielleicht beruflich auch dort involvierte Rechtskundige seinen eigenen Berufsstand häufig auf die Schippe. Ein ungeschriebenes Gesetz lautet denn auch folgerichtig: " Zwei Juristen, drei Meinungen. "
Vor langer Zeit galt die Juristerei als Herrschaftswissen. Die Richter, Rechtsanwälte und Verwaltungsjuristen dienten den Herrschenden und separierten sich vom Plebs durch eine verquastete Sprache.

Das ist nun heute nicht mehr der Regelfall. Längst hat die durch gestylte Mediengesellschaft die Jurisprudenz entzaubert. In sämtlichen Tätigkeitsbereichen der Dritten Gewalt fungiert ein Pressesprecher, der die dort getroffenen Entscheidungen mit meist verständlichen Worten in die breite Öffentlichkeit zu bringen versucht. Dieses gelingt nicht immer, aber immer öfter. Wenn Urteile von besonderer Bedeutung gefällt worden sind, werden jene dann in den Massenmedien lang und breit erläutert. Auch hierbei gilt, dass nicht jeder Versuch glückt. Wenn sich etwa Journalisten redlich bemühen, die Rechtsmaterie in eigenen Worten zu beschreiben, kann das Ansinnen schon mal zum Super-GAU werden.

Dabei kommen denn Verwechselungen vor. So schwadronierte eine Lokalpresseredakteurin über einen Strafprozess gegen den Ex-Oberbürgermeister R. aus Dresden und zitierte in ihrem Anfall von blinder Arbeitswut eine falsche Vorschrift aus der Zivilprozessordnung. Einige Monate später war von ihr nichts mehr zu lesen.
Auch so mancher Kommentar eines Rundfunkjournalisten geriet zum Fiasko und verursachte bei dem Zuhörer vom Fach einen Lachkrampf.

Nicht zu der Rubrik der Übungsstücke gehören indes jene Beiträge, die von Journalisten verfasst werden, die sich in dem Dschungel der Judikative auskennen und fundiert zu aktuellen Themen öffentlich Stellung beziehen.
Das hätte der Rezipient auch erwartet, als vor knapp zwei Jahren der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR ) in Straßburg eine Entscheidung zu einer Klage über das bundesdeutsche Recht der nachträglichen Sicherungsverwahrung von Strafgefangenen verkündete, deren Sozialprognose als negativ qualifiziert worden war.

Die einstigen Rechtsgrundlage zur Umsetzung der in der Bundesrepublik bis dato ausgeübten Praxis ergaben sich aus § 67 d Absatz 1 Strafgesetzbuch in seiner alten Fassung sowie aus  §§ 66 bis 66b des Strafgesetzbuches.
Der EGMR hat dazu in seinem Urteil vom 17. Dezember 2009  festgestellt, dass diese Regelungen gegen Artikel 7 ( Keine Strafe ohne Gesetz ) der Europäische Menschenrechtskonvention  (EMRK ) nicht in Einklang zu bringen sind.
In einer weiteren Entscheidung vom 13. Januar 2011 urteilte der EGMR in ähnlicher Weise und entschied, dass auch die im Jahre 2004 eingeführte nachträgliche Sicherungswahrung gegen Artikel 5 ( Recht auf Freiheit und Sicherheit )Absatz 1 EMRK verstoße.

Mit diesen beiden Urteilen setzte sich der EGMR über anderslautende Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) in Karlsruhe hinweg und gab den Klägern das Recht, was ihnen zuvor in sämtlichen Instanzen versagt wurde. Der EMRK sieht in der Vollstreckung einer nach Verbüßen der regulären Strafhaft nachträglich angeordneten Sicherungsverwahrung einen rechtswidrigen Eingriff in eben jene Menschenrechte, die auch auf  verurteilte Häftlinge anzuwenden sind. Ein Verstoß gegen die dort zitierten Artikel der EMRK wird darin gesehen, dass die Regelung der nachträglichen Sicherungsverwahrung lediglich von prognostizierten, weiteren Straftaten ausgeht, ohne das diese konkret vorliegen.
Die Gesetze sollen somit der Allgemeinheit einen prophylaktischen Schutz gegen mögliche, schwere Straftaten von bereits Verurteilten gegeben, indem diese weiter weg gesperrt bleiben.

Das sind zwar nur einige dutzend Personen, auf die die benannten Vorschriften angewandt wurden, dennoch ging nach dem Urteilen aus Straßburg ein Aufschrei des Entsetzens durch unsere Lande. Von Flensburg bis Garmisch-Patenkirchen und von Aachen bis Prenzlau kochte die Volksseele. Angeheizt von einer Kampagne der Boulevardblätter entlud sich der Volkszorn nicht nur gegen die Richter am EGMR, sondern auch gleich gegen die Politiker, die es wagten, die Straßburger Rechtsprechung zu verteidigen.

Die Situation für die danach entlassenen Ex-Strafgefangenen zeigte sich in einigen Fällen als nahezu lebensbedrohlich, nachdem diese ihre Versuche auf Wiedereingliederung in das normale Leben gestartet hatten. Ein besonders prägnanter Fall von Ausleben des gesunden Volksempfinden geisterte über viele Monate in den Medien herum, als ein Ex-Häftling in der Nähe von Mönchengladbach eine vorübergehende Unterkunft bei dem dort wohnenden Bruder und dessen Familie suchte.

Auch in dem Dorf mit dem wohl klingenden Namen Insel, das zur Hansestadt Stendal in Sachsen-Anhalt gehört, schwappte der Frust gegen die Politik, die Justiz und das deviante Leben anderer Menschen über.
Der altmärkische Ort liegt zirka 12 km von Stendal entfernt Er zählt ganze 729 Einwohner.
Hier kennt jeder Bewohner den andere seit vielen Jahrzehnten.
Die üblichen ländlichen Strukturen eben. Der Dörfler in Insel ist nicht mehr jung, wählt und denkt rechts und gibt sich bodenständig. Keine Experimente also!

Seit Mitte Juli ist dort die angeblich heile Welt aus den Angeln gehoben. In einem Haus der Freiburger  Familie von C. haben sich doch tatsächlich zwei einstige Sicherungsverwahrte, die aufgrund der Straßburger Entscheidungen frei gelassen werden mussten, einquartiert.
Nicht mehr und nicht weniger.
Das widerwärtige daran ist aber nicht ihre Anwesenheit, sondern die Art und Weise wie in den Revolverblättern darüber berichtet wurde.
Das brachte deshalb die Inseler auf die Palme.
Es wurde fortan vor dem Haus der Familie von C. demonstriert. Nicht etwa für eine bessere Welt ohne menschliche Abnormitäten, sondern gegen die beiden Ex-Häftlinge und deren Gastgeber. Jeden Morgen jeden Tag, jeden Abend, standen sie da, die Billig - und Gerechtdenkenden aus Insel.

Bis vor  fünf Wochen, dann herrschte gespannte Ruhe vor dem Haus der Familie von C. in Insel, in dem die beiden 54 und 64 Jahre alten Männer seit Mitte Juli wohnten und die Frustration der Altmärker auf sich zogen. Dazwischen lagen Verhandlungen des Bürgermeisters von Bismarck (CDU) mit dem Innen- wie Justizministerium unter Vermittlung der Kirche über den geforderten Wegzug der beiden einstigen Sicherungsverwahrten. Zuletzt erschienen zwei Staatssekretäre aus Magdeburg, um sich der Sache anzunehmen. Bernhard Schmidt-Elsaeßer (Justiz/SPD) und Ulf Gundlach (Inneres/CDU) mussten bei der anberaumten Ortschaftsratssitzung kräftigt Keile einstecken. Die aufgebrachten Inseler fühlten sich von der Politik im Stich gelassen. So ist das eben, wenn, man versucht, ein Problem auszusitzen statt intensiv nach einer Lösung zu schauen. Erst nachdem der Volkszorn auf dem Siedepunkt war, bequemte sich die Landesregierung, das Dorfvolk Ernst zu nehmen und nach einer Umsetzung dessen eisernen Willens, den sofortigen Wegzug der "Störer" aus dem Ort zu veranlassen. Wobei nicht zu übersehen war,dass die Teile der Inseler Dorfbevölkerung der Politik grundsätzlich mehr als skeptisch gegenüber stehen. Sie treibt es zurück auf die Straße.

Ihnen gesellten sich dann auch einige Neofaschisten hinzu, deren Ansinnen nicht nur die Unterstützung der lautstarken Forderung der Inseler auf Wegzug der beiden Männer war. Die braunen Trittbrettfahrer haben andere Ziele im Visier. Das ungesunde Rechtsempfinden dieser Protestler sieht neben der Wiedereinführung der Todesstrafe, auch deren Exekution bei bestimmten Gewalttätern vor. Die schwarz-braune Melange, unterstützt von CDU-Bürgermeister von Bismarck redete nun Tacheles. Kein Platz für Mörder, Vergewaltiger oder Kinderschändern in Insel, in Sachsen-Anhalt, in der Bundesrepublik.
Wer einmal als Verbrecher wegen derartiger Taten rechtskräftig verurteilt war, hat auch nach Verbüßen der Strafe keine Rechte mehr in diesem, unserem Lande.
Populismus pur, also.

Von Bismarck erntete deshalb Kritik von allen Seiten für sein Eintreten in das Tollhaus der niederen Beweggründe des bundesdeutschen Spießertums. Sein zwielichtiges Verhalten wurde sogar zur Causa im Landtag. Ministerpräsident Hasselhoff ließ sich herab, seinen Parteifreund ex cathedra zurecht zu stutzen. Auf das Maß, was einem christlichen Mitglied in einer Christichen Partei Deutschlands eben gebührt: Das Recht so zu akzeptieren, wie es geschrieben und gesprochen ist. Auch Straftäter haben nach ihrer Entlassung die selben Persönlichkeitsrechte wie unbescholtene Bürger, die in Kittelschürzen und biederen mausgrauen VEB-Hosen von anno tobak ihre Vorurteile mittels Vuvuzela, schwarz-rot-geilen Transparenten und ungelenkten Sprachversuchen der Medienmeute gegenüber nun öffentlich zur Schau stellen.

Freiheit ist immer die Freiheit des Andersdenkenden? Oder ist Freiheit nicht auch die Freiheit des Anderslebenden? Freiheit ist aber vor allem die Möglichkeit dort zu leben, wo es einem gefällt. Notfalls auch in Insel, wenn die zur Insel des Grauens wird.

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