Der Niederrhein - schreibt er eigene Geschichten? - Teil II











Eigentlich hatte ich den Post thematisch längst zu Grabe getragen. Ich wollte die Geschichte zu der Entwicklung des Landstrichs zwischen zwischen Kleve, Goch, Kevelaer, Geldern und Moers, ad acta legen. Meine Gedanken und Empfindungen zu jener Dokumentationsendung über einen Zipfel Bundesrepublik zwischen vorgestern, gestern und heute waren für mich mit diesem post abgearbeitet. Es gab nichts mehr zu schreiben, weil die Ereignisse in einer abgehängten Region, deren sozioökonomischer Niedergang ein Spiegelbild des Ruhrgebiets darstellt, so banal sind, dass es Nachrichten von Niederrhein nicht einmal in die Regionalsendungen bringen. Aus einer Region in der die Blütezeit der einst westdeutschen Schlüsselindustrien nicht den erwünschten Um - oder Aufschwung gebracht hatten, die sich mit den Armenhäusern der dann wiedervereinigten Republik, die da u.a. heißen:

Emsland, Ostfriesland, Friesland, Ammerland, Nordfriesland, die gesamten Regionen zwischen Lübeck, Rostock und Berlin bis zur polnischen Grenze, Lauenburg, Lüchow-Danneberg usw. Sie alle sind immer noch wirtschaftlich und kulturell zurück geblieben.
Sie sind beispielhaft alle Male vergleichbar mit dem Niederrhein. Sie sind aber auch identisch mit jenen Regionen, die außerhalb der Großstädte als so genannte Einzugsgebiete die Diskrepanz zwischen Stadt und Land, zwischen Provinz und Metropole, zwischen überschaubar und undurchsichtig, deutlich aufzeigen. Das Rheinland gibt hierfür vielfältige Beispiele - nicht nur den Niederrhein. Auch die Gebiete entlang des "Vater" aller deutschen Flüsse, sie sind geprägt von Widersprüchen. Einerseits herrliche Landschaften, andererseits tiefe Provinz, in der die Zeit fast stehen geblieben zu sein scheint.
Das Gebiet zwischen Köln und Düsseldorf, jene Landstriche um Dormagen, sie zählen uneingeschränkt zu diesem Typus.

Es war ein Fernsehtipp bei MDR Info, der in den frühen Morgenstunden des Freitags mit aufhorchen ließ. Ab 21.00 Uhr bringt " ARTE " den Zweiteiler " Der Teufelsbraten ". Eine Geschichte aus dem Milieu des Nachkriegsdeutschlands, der Adenauer-50iger und 60iger Jahre, der Restaurationspolitik und der Geschichtsaufarbeitung. Zu einer Zeit also, in der die Zukunft völlig ungewiss, die Gegenwart sich bleiern ablagerte und die Vergangenheit noch allgegenwärtig war. In diesen Jahren wurde jedwede Individualität bereits im Keim erstickt, ein ansatzweisen Aufbegehren gnadenlos nieder gemacht, ein Abweichen von den Normen und Werten mit drastischen Sanktionen geahndet. In dieser Gemengelage. Der Krieg war erst 6 Jahre vorbei, als der Film einsetzt. Das Nachkriegskind Hildegard " Hilla " Palm ist fünf Jahre alt. Sie lebt in einer üblichen Familienkonstellation: Gr0ßeltern,Eltern, jüngerer Bruder - allesamt unter einem Dach in drei winzigen Räumen zusammengepfercht. Eine Behausung mit Hühnerstall, Kraut & Rüben - Garten, vor einem unbefestigten Weg und innerhalb eines ebenso armseligen Umfeldes. Der Vater ist ungelernter Arbeiter in einem Stahlwerk, die Mutter - ebenfalls ungelernt - verdingt sich stundenweise als Haushaltshelferin und Putzfrau, der Großvater laboriert an den Folgen eines KZ-Aufenthalts, die Großmutter ist eine bornierte Katholik in, die frömmelnd ihre unzähligen Vorurteile heraus lässt, der Bruder etwas mehr als 2 Jahre jünger, als "Hilla " wird von Beginn an bevorzugt behandelt. Nicht nur weil er als Junge eine höhere Wertstellung durch die Eltern und den fernab wohnenden, etwas wohlhabenden Onkel, erfährt, sondern, weil er eben nicht aufmüpfig ist. Eben kein " Teufelsbraten " oder auch " Satansbraten ". Kein Mensch also, der sich und andere Mitmenschen durch unbedachte Äußerungen und eine unangepasste Lebensweise in Verruf und in Schwierigkeiten bringt. Die Moral spielte eben in dieser Zeit bereits wieder eine große Rolle; vorallem die katholische Morallehre; die christliche Ethik, sie war wieder gefragt. Nachdem das Deutschland ab 1933 mit dem Nationalsozialismus sämtliche moralischen Ansätze und humanistische Werte verloren hatte.

Das tausendjährige Reich dauerte nur 12 Jahre. es waren allerdings auch zwölf sehr lange Jahre. die Bevölkerung erlebte, erlitt und ertrug einen Lebensabschnitt, der sich - je nach Alter - für immer in die eigene Biographie einbrannte. Ein Makel hinterließ, der nie wieder getilgt werden sollte. Diese Menschen mussten nun - von außen bestimmt - einen Umerziehungprozess durchlaufen, an dessen Abschluss ein neuer Bürger, ein demokratischer Deutscher stehen sollte. Dieses misslang!

m Verlaufe der Nachkriegsjahre entwickelte sich ein teutonischer Bundesbürger, der weder mit den ihm geschenkten Freiheiten etwas Konkretes anfangen konnte, noch diese Freiheiten an die Folgegeneration weiter gab. Eingeklemmt in der Vergangenheitbewältigung und der Technik - sowie Obrigkeitgläubigkeit wurde von Eltern verlangt, ihre Kinder wohl zu erziehen; sie auf das Erwachsenenleben vorzubereiten. Der Film zeigte ein Leben ab dem Jahre 1951, dass geprägt ist von einem äußerlich zwar intakten Familienleben, jedoch der kindlichen Entwicklung überhaupt keinen Raum lässt. Die Zerrissenheit der eigenen Eltern und Großeltern, bedingt durch die post-traumatischen Erlebnisse aus den Jahren des Nationalsozialismus, sie zeigt sich in unzähligen Szenen.


Die hervorragenden Schauspieler lassen nicht nur erkennen, dass es eine Zeit ist, die in dieser Form nie wieder vorkommt, die allerdings auch über 15 Jahre andauert und sich - vorallen in den ländlichen Gebieten -bis zum Ende der 60er fortsetzt. Eine Ära, in der die auf Kadavergehorsam getrimmten Eltern ihre eigenen Schwächen, ihr Unvermögen und die auf Selbstmitleid basierenden Wutausbrüche nicht nur in massiven Prügelorgien ausleben dürfen, sondern diese Charakterschwächen vollends in psychologischen Terror gegenüber den noch Schwächeren, dem Kind, ausleben. Ein ganzen Bündel von Strafen bis hin zum Einsperren, die Missachtung der kindlichen Würde durch barbarische Erniedrigungen, dieses Alles gehört zur Klaviartür des Sanktionierens.

Der Vater ist ein Schwächling, der sich in den entscheidenden Situationen, in denen er seine eigene, für ihn frustrierende, Lebenssituation hätte umkehren können, völlig versagt. Statt sich auf die Seite der Arbeiter und die Durchsetzung ihrer Rechte zu konzentrieren, lässt er sich von seiner Frau derartig beeinflussen, dass er seinen Plan, in die Gewerkschaft einzutreten und im Betriebsrat tätig zu werden, aus Angst vor - angeblichen - Sanktionen, wieder schnell verwirft. Die Schwiegermutter, die durch den manisch ausgelebten Katholizismus und der exzessiv ausgelebten Obrigkeithörigkeit, gegen Alles, was antiklerikal eingestellt sein könnte, was nicht in ihr provinzielles Weltbild und das medial vermittelte Adenauer´sche Raster passt, wettert und zetert. Gewerkschafter sind deshalb Kommunistenfreunde, Sozialdemokraten unisono, beide gesellschaftlichen Gruppen werden von Moskau, von Stalin und Chrustschow, von Ulbricht und der Sowjetisch Besetzten Zone, gesteuert. Sie sind Feinde des sich entwickelnden Deutschlands, des Westdeutschlands und seiner Alliierten Verbündeten, den USA, England und Frankreich. Die Hetze, die billige Polemik und die konform laufenden Medien, sie bringen ein reaktionäres Weltbild in jenen Arbeiterhaushalt, der sich dann nur noch der Frömmelei hingibt.

Der Großvater nimmt sich der Hilla an. Er zeigt genügend Herz und Verstand, um ihr jenen Überlebenswillen zu vermitteln, den das Mädchen benötigt, die eisernen Fesseln, des spießigen Denkens in der Familie abzuwerfen. Hilla wird eingeschult. In eine Volksschule des Nachbardorfes. Der Lehrer, ein strenger, jedoch auch gerechter, älterer Mann, erkennt sehr früh die Fähigkeiten des Mädchens. Sie ist nicht nur begabt, sie ist eine Querdenkerin, die damit nicht in das übliche Schema passt. Sie ist eher aufgeschlossen, jedoch fleißig, sie lernt gewissenhaft, sie zeigt sich literarisch sehr interessiert. Aus dem Vermögen, bereits sehr früh - mit Anfang sechs Jahren - passabel Lesen zu können, wird ein Vermögen, das weit über die Grenzen des Dorfschulniveaus hinaus geht.

Der Dorfschullehrer ist ihr deshalb wohl gesonnen. Er gibt ihr die Chance, sich auf der Mittelschule zu behaupten. Die Eltern, vorallem der Vater, sind strikt dagegen. Sie lenken jedoch auf Druck des Lehrers und der Schwiegereltern ein. Der Bruder wird schließlich noch - als kostenverursachender Esser - durch den Onkel mitgenommen, um ihn auf ein teures Internat zu bringen, wo er seien Chance erhält, eben jene bessere Schulhausbildung zu erhalten, die Hilla zunächst nur bedingt erhält. Die Mittelschule zeigt ihr ein anderes Bild der Gesellschaft.

Ihre Klassenkameraden stammen aus bereits gut situierten Familien, aus Kreisen, in denen mit Messer und Gabel gegessen wird, sich gepflegt unterhalten wird, in denen gelesen wird.

Das Sprechen in dem rheinischen Dialekt ist verpönt. Der Dorfschullehrer hatte Hilla ja schon darüber aufgeklärt, dass nicht nur in der Schule Deutsch gesprochen wird. Nicht das typische " j " statt des alphabetischen " g ". Aus dem Kalauer: " Eine gute gebratene Gans, mit einer goldenen Gabel gegessen, ist eine gute Gabe Gottes " kommt nicht ein Kauderwelsch, wie " Eine jute jebratene Jans,mit einer joldenen Jabel jejessen, ist eine jute Jabe Jottes. " heraus.

Die Freundin aus bürgerlichem Haus mag Hilla. Sie erhält eine Geburtstagseinladung, obwohl sie eigentlich nicht dazu gehört.
Hilla erhält Unterricht in den Fächern, die in der Schule nicht vermittelt werden: das respektvolle Umgehen miteinander, das Austragen von Konflikten mittels Worten.

Der Vater, ein Malocher ohne Selbstwertgefühl, Kriegsheimkehrer und Kriegsversehrter, weil auf dem linken Auge blind, bemerkt den positiven Einfluss jener anderen Mitmenschen, die es inzwischen weiter gebracht haben als er. Er hasst diese Menschen und schlägt deshalb seine Tochter grün und blau. Mit dem Rohrstock, mit der Hand, er erniedrigt sie, in dem er in einem Tobsuchtsanfall ihre Gabel zertritt, ihr dann mit den bloßen Fingern weiter zu essen befiehlt, und sich darüber lustig macht. Ein viehisches Verhalten, dass die Seele des Mädchens jedoch nicht bricht. Hilla hat andere Pläne. Sie möchte zur Oberstufe des Gymnasiums. Der Mittelschullehrer empfiehlt es ihr. Doch die Eltern sind dagegen. Die Mittelschule reicht, denn die heiratet dann eh.

Hilla kämpft sich durch. Sie erlebt die ersten a-sexuellen Kontakte zu Jungen. Zunächst ist es ein Italiener, den sie liebt, dann der Sohn eines Oberingenieurs, dessen Mutter sie schließlich - weil Hilla nicht standesgemäß ist - vertreibt, obwohl sie ihrem Sohn durch Nachhilfeunterricht vor dem schulischen Scheitern bewahrt. Statt das Gymnasium zu besuchen, muss Hilla eine Lehre in einer Stahlfabrik als Bürokauffrau beginnen. Sie sträubt sich dagegen; gegen die einengenden Zwänge, gegen eine verknöcherte Vorsetzte, die ihre sexuellen Gelüste durch das Erzählenlassen von - erfundenen - erotischen Begegnungen der jungen Frau, befriedigen möchte. Das streng organisierte Fabrikleben ödet Hilla an. Sie ist unterfordert, gibt sich aufmüpfig und unangepasst. Die Lehre zur Bürokauffrau gibt ihr nichts. Sie resigniert, beginnt zu trinken - bis ihr ehemaliger Mittelschullehrer, für den sie - wie einige Mädchen aus ihrer Klasse einst auch - schwärmte, zu Hause aufsucht und die elende, die psychisch labile Lage von Hilla wahrnimmt.
Er interveniert beim Pfarrer. Mit dem er gemeinsam den Entschluss fasst, die zunächst ausweglose Lebenssituation für Hilla zu beenden. Der Pfarrer besucht Hilla´s Eltern und spricht ein Machtwort. Sinngemäß gibt er eigentlich jene christliche Botschaft der Bibel wieder, für die er Vorort täglich eintritt: Es gibt im Leben gewisse Bestimmungen, denen sich irgendwann keiner entziehen kann. Der Malocher, der Vater, der Neider und Selbsthasser, er muss jetzt einlenken. Was das verkündete Wort Gottes einst bewirken konnte, ist aus heutiger Sichtweise nicht einmal zu erahnen. So gibt es denn auch ein happy end: Hilla legt ihre Hochschulreife ab und darf studieren.

Ende gut, alles gut?

Von wegen. Dieses Stück Zeitgeschichte verdeutlicht eindrucksvoll jene Denkmuster der einstigen Gesellschaft, die nicht nur von nationalsozialistischen Inhalten geleitet waren. Da gibt es noch Fremdarbeiter und Neger, das Vokabular ist rassistisch eingefärbt. Die unzähligen Flüchtlinge, die aus den einst ins Reich heimgeholten Ostgebieten in der Provinz abgeladen wurden, sie stellen ein Bedrohungspotenzial dar. Diese Fremdkörper sind Feinde der Provinzidylle, die längst keine mehr ist. Die Großmutter hetzt gegen alles Andersartige - so auch gegen diese Menschen. Kleinkariertes Denken gepaart mit einem klerikalen Fundament, dass zeichnet den typischen Rheinländer von damals aus. Der geistige Horizont geht nicht einmal mehr über das eigene familäre Umfeld hinaus. Es gibt keine Zukunfstpläne, keine Visionen oder Veränderungen. Die provinziellen Einflüsse hemmen jedweden Lebensstil. Die deutsche Provinz ist einst sicherlich nicht piefig-miefiger gewesen, wie jene in den Nachbarländern. Sie ist jedoch post-faschistoide und das sind die inhaltlichen Unterschiede.
Genau jene Kindheit und Jugend habe ich in dem Film wieder erkannt. Jenes enge Korsett, dass sich auf Ober - und Unterordnung aufgebaut hatte, das die kindlichen Wünsche und Träume ausblendet und welches dann den unreifen Jugendlichen selbst dann noch verhöhnte, wenn er den Erwachsenen intellektuell überlegen war. Der egoistische Lebensstil einerseits und das mangelnde Selbstwertgefühl andererseits produzierten bei den Eltern ein widersprüchliches Verhalten, dass die Zuneigung und die Gefühle zu den eigenen Kindern im Verborgenen behielt und die züchtigende Werte - und Normenvermittlung in den Vordergrund spielte. Hinzu kam jene proletarischen Denkmuster und Reaktionen, die in den ersten Jahren durch die materiellen Einschränkungen geprägt waren und sich später in eine Art maßloser Selbstüberschätzung manifestierten. In den 50ern waren diese Lebensinhalte auf das bloße Existieren reduziert, in den 60ern auf das organisierende, delegierende Miteinbeziehen der eigenen Kinder in den täglichen Arbeitsfluss, welches auch mittels drastischer Sanktionen umgesetzt wurde.
Nein, meine Kindheit war nicht nur eitel Sonnenschein. Sie war auf Funktionieren und Ausleben von elterlichen Frustrationen geprägt. Wir Kinder liefen nebenher. Wir Kinder hatten jene Entbehrungen zu tragen, die auch den Erwachsenen auferlegt wurden. Die proletarische Herkunft habe ich in jenen Jahren nie ablegen können; dafür sorgte das Adenauer-Regime und seine willfährigen Vasallen in den Institutionen. Die Gesellschaft war in drei Gruppen unterteilt, Oberschicht, Mittelschicht und Unterschicht. Wir Kinder gehörten der Letzteren an.
Auch nach der Volksschule wurden nur bedingte Zugeständnisse gemacht. Dafür mussten wir Kostgeld abgeben. Von 90 DM Ausbildungsvergütung sage und schreibe 50 DM; von 120 DM, dann 70 DM von 180 / 210 DM, zum Schluss 110 DM. Geld, Geld, Geld, malochen, malochen, malochen und später konsumieren und reisen - schöne Kindheit? Eher schlimme Kindheit und verkorkste Jugend - so wie bei Hilla im " Teufelsbraten "!





















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