" Aber, aber, meine Herren. Nicht so stürmisch! Jeder kommt mal dran! " Anekdoten aus dem Alltag einer Tanzschule der 60er Jahre.
Ferner war Burkhard Driest als Gesprächspartner eingeladen. Er saß ab den 60ern im Zuchthaus, weil er kurz vor dem Jura-Examen eine Bank überfiel. Ebenfalls in der Runde stand die Kabarettistin Maren Kroymann, die sich damals - aus einer Tübinger Professorenfamilie stammend - einen Namen als Sängerin und Schauspielerin machte.
Einzig der ewig grinsende Moderator der Sendung " Die 60er Jahre im Südwesten - Zeit des Umbruchs ", Markus Brock, war fehl am Platz. Er wurde erst 1963 geboren und hat deshalb von jener Aufbruchzeit nichts mit bekommen. Dennoch war die Sendung informativ, kamen nämlich jene Bilder und Filmberichte aus der Zeit der Pilzkopffrisuren, der provokanten Mode und des all gegenwärtigen Faschismus wieder aus den Archiven der Fernsehsender.
So stellt denn der SWR hierzu sachlich, nüchtern fest:
" Kaum ein Jahrzehnt hat Deutschland und den Südwesten so verändert wie die 60er Jahre. Die Amerikaner erobern den Weltraum, doch daheim auf der Erde häufen sich die Probleme. Die 60er sind die Jahre des Umbruchs und der Konflikte. Minirock und Beatmusik, sexuelle Revolution und gesellschaftlicher Wandel, die Heranwachsenden geraten mit den Konventionen von Gestern aneinander - auch im Südwesten. "
- Zitatende - aus: http://www.swr.de/sonntagabend/-/id=98542/19w7x6x/index.html
So war es auch noch zum Ende dieser bewegten Dekade. Erst langsam vollzog sich in Wandel in den Denkstrukturen der Deutschen, die immer noch aus dem III. Reich jene Relikte herüber nahmen, wenn es darum ging,deren Hass und Wut gegenüber dem Anderssein der Jugend zum Ausdruck zu bringen.
Aus diesem Nachkriegsjahren wurden auch viele Konventionen im gesellschaftlichen Umgang von Generationen, aber nicht nur hier, weiter gepflegt und mit Gewalt und Sanktionen eingebläut.
So hatten Jugendliche aufzustehen, wenn ein Erwachsener in der S-Bahn nach einem Sitzplatz Ausschau hielt. Sie hatten einen " Diener " oder bei Mädchen einen " Knicks " zu machen, wenn sei einem Erwachsenen die Hand gaben. Sie hatten bei der Tanzstunde, die ab 15/16 Jahren obligatorisch für diese Zeit war, bei der Damenwahl, jenes " Fräulein ", mit " Darf ich bitten? ", anzusprechen und sich dabei leicht zu verbeugen.
Die Tanzschule von damals war ein Graus. Hier trafen überholte Verhaltens - und Höflichkeitsregeln auf pubertierende Jugendliche, deren Vorbilder eher die " Rolling Stones ", die " Beatles " oder die " Who " waren. Jene Musikgruppen in ihren poppigem Outfit, die zwar zunächst auch mit Schlips und in Einheitsanzügen auftraten, doch schon bald ihre Lieder in Fantasiebekleidung zum Besten gaben.
Wer die Tanzstunde besuchen wollte, musste damals im Westen auch Anzug, Krawatte und schwarze Lederschuhe tragen. Wenn also die Eltern ihren minderjährigen Bub oder das Mädle in einer der vielen Tausend Tanzschulen anmelden wollte, war zunächst ein Ausbildungsvertrag zu unterschreiben. Das hatte der Vater als der alleinige,gesetzliche Vertreter vorzunehmen. Danach wurde Geld kassiert. 90 Deutsche Mark für den Grundkurs, 30 Deutsche Mark für den Mittelball ( eine lächerliche Übertreibung für ein Treffen vieler junger mit älteren Menschen, die dafür noch viel Geld berappen mussten ) und die gleiche Summe noch einmal für den so genannten Abschlussball. ( dito ). Zudem musste eine Tanzpartnerin der Wahl den gesamten Abend über mit Getränken frei versorgt werden.
So, oder so ähnlich waren die Konditionen in Westdeutschland. und - in leicht abgewandelter Form - auch in der DDR.
Ich versuchte mich lange, vielleicht etwas zu lange, der drohenden Tanzschule in Bückeburg, die den Namen " Tanzschule Döring " hatte, zu verweigern. Schließlich traf mich die geballte Kraft der fast gleichaltrigen Mitschüler aus der Nachbarschaft und in der 8. Klasse. Einige Monate vor meinem 16. Geburtstag, im Herbst 1968, begann die Schnellausbildung und sollte bis zum Ende des Jahres beendet sein. Zunächst mussten meine Eltern viel Geld für einen Anzug berappen, der allerdings so gekauft wurde, dass er zur anstehenden Konfirmation im Mai 1969 auch noch passen sollte. Die damaligen Fachgeschäfte in Bückeburg, die Herrenoberbekleidung schon von der Stange verkauften, waren für diesen doppelten Anlass gut bestückt. So fiel denn meine Wahl auf einen dunkelblauen Anzug, ein weißes Nyltest-Hemd, einen dunkelbrauen Binder mit Gummizug und im Schuhfachgeschäft auf ein Paar schwarze Herrenschuhe, Größe 45, mit Brandsohle und spitzem Zuschnitt. Da waren denn mal locker 200 Deutsche Mark ausgegeben.
Die erste Tanzstunde, begann an einem Mittwoch im September gegen 19.00 Uhr. Die Tanzlehrer, ein älteres Ehepaar mit dem typisch westdeutschen Vornamen Ingrid und Heinz und dem durchaus geläufigen Nachnamen Döring, stellten sich kurz vor, ehe das Palaver um die Benimmregeln auf uns herein prasselte. Wer keinen Anzug trug, durfte sofort gehen. Gleiches galt für die Langhaarigen unter den mehr als 50 Jungmännern. Heinz Döring war ein exzellenter Berufstänzer mit knall harten Manieren und einer unerbittlichen Einstellung zum Leben und seinen Regeln in Westdeutschland. Ein rheinland - pfälzsischer Biedermichel eben. Seine Frau Ingrind, mit hoch toupierter Schwalbennest-Frisur, schwarz getönt von Wella, war eine ebenso exzellente Tänzerin. Das Paar hatte bereits Landesmeisterschaften gewonnen.
So erklärte uns " Uns Heinz ", wie sich ein Jungmann zu benehmen hatte, wenn er tanzen geht und " Ich Ingrid " brachte die Tanztechnik herüber. Ich höre sie noch mit schnarrzender Stimme durch den großen Parkettsaal befehlen: " Und links step, rechts step....!"
Mich kotzte das eigentlich an. Statt der blöden Tanzfuzzi-Musik hätte ich lieber " The Who " mit " My Generation ", die " Small Faces " mit " Shala la la lee " oder die " Rolling Stones " mit " Get of off my Cloud " gehört. Was für eine öde Schlager - Affen - Mucke von " Gitte ", dem Peter Alexander oder Hugo Strasser und seinem Orchester, der die Schlager der blöden Deutschsänger noch verschlimm besserte, indem sie nun instrumental auf dem Döring´schen Plattenhobel herüber krächzend, bei mir Ohrenschmerzen verursachten.
Ich flehte jeden Mittwoch den Lieben Gott an und betete, dass der Kelch in Form des heran nahenden VW Variant, VW Käfer oder des elterlichen Ford Taunus 12 M an mir vorüber ginge, weil die Karren plötzlich wegen eines technischen Defekts stehen blieben. Es traf kein einziges Mal zu. Immer wieder brachten uns die Elternteile heil und sicher zum Ehepaar Döring, das im Saal der Gaststätte " Altes Forsthaus " am Rande der Provinzstadt Bückeburg und des dort angrenzenden Harrl, auf ihre Beute wartete, um sie zu malträtieren. Nein, es war keine schöne Zeit, im Anzug, mit Schlips und " Salamander " Halbschuhen, deren Sohle so glatt war, das ein ungeübter Tänzer, wie ich, schon mal das Gleichgewicht verlieren konnte.
Aber, es traf hier nicht nur mich, sondern auch so manchen, sehr übereifrigen Mitstreiter, der einen Raketenstart hin legte, wenn Ingrid Döring ein paar Wochen nach Kursbeginn bei einem Langsamen Walzer, einer Rumba oder dem Cha Cha cha, plötzlich rief: " Damenwahl!" Dann stürzten die Mitstreiter wie von einer Tarantel gestochen los, ja, sie schossen wie eine Saturn - Rakete von dem harten Einheitsstuhl hoch, mussten auf halbem Weg zu der jeweiligen Auserwählten dann abrupt abstoppen, einen 45 -, 90 - oder im Extremfall 180 Grad Kurswechsel vollziehen, um sich - noch in der Rotationsbewegung befindlich - ebenso rasant auf eine alternativ ausgewählte Tanzpartnerin los zu jagen.
Ingrid Döring war aber auch hier nahezu unbestechlich, was die dann noch sitzen gebliebenen Damen betraf. Wer keine akzeptable Visage ergattert hatte und orientierungslos mitten im Saal, wie ein begossener Pudel herum stand, dem wurde kurzer Hand von Ingrid ein Monster zugeteilt. Und was es damals schon für - wohl aus dem nahezu unerschöpflichen Katalog der Mendel´schen Fehlgriffe entstandene - Dorfpommeranzen gab. Nicht alle so dick, mit einem Kampfgewicht von über 100 Kilogramm oder dem BMI ab 30 aufwärts, wie die Fast Food - Krawummen von heute, aber dennoch potthäßlich. Mit Brille ( vulgo: " Brillenschlange " ), mit vorstehenden Zähnen ( vulgo: " Kanninchen " ) oder mit zerknitterten Gesicht und abstehenden Ohren sowie Sauerkraut - oder Drahtbürstenfrisur ( vulgo: " Blecheimer ", " Trampel Toni ", " Alpen - Zenzi " ).
Wer als zarter Knabe im Pubertätsalter, ein solches Monster zu schieben hatte, durfte getrost von sich behaupten, die " Arschkarte ", den " Zonk " oder die " Niete " gezogen zu haben.
Aber, halt! Um nicht gleich sexistisch zu sein, muss ich im selben Atemzug, auch nach über 4 Dekaden, fest stellen, dass es genau so viele männliche Schrumpfköpfe gab. Wo die Erbanlagen der Eltern voll durch schlugen, entwickelten sich schon in der pubertären Phase der wahre Dorftrottel. Rote Haare, dazu noch in Naturkrause, waren ein absolutes No - Go. Ebenso Glupschaugen, ein Säufergesicht und Segelohren. Wer dann dazu noch den Stallgeruch, den Achselschweiß oder sonstige Ausdünstungen auf die Tanzpartnerin einwirken ließ, hatte selbst bei den Damen mit nur mäßigem Aussehen sehr geringe Chancen, ein mildes Lächeln zu erhalten.
So entwickelte die Jungmännerwelt bei Döring´s einen perfiden Konkurrenzkampf, ja, einen wahren Kleinkrieg, ein Ausleseritual, wer, wie, wann, einen solchen Drachen schieben zu müssen, dieses verhindern kann. Da wurde bei dem Aufruf zur " Damenwahl " geschoben, geboxt und durch Bein stellen, Foul gespielt. Wer auf dem spiegelglatten Parkett wegen der Brandsohlen unter seinen Tretern das Gleichgewicht verlor, zeitgleich ins Straucheln kam und wertvolle Sekunden verlor, musste seine Chancen, eine der wenigen gut aussehenden Damen zu ergattern, förmlich in den Wind schreiben. Ingrid Döring wusste von den fiesen Tricks und Kniffen und hatte zudem ein Personengedächtnis wie ein heutiger PC mit einem leistungsstarken Prozessor und einer 200 GB Festplatte. Ihr entging nichts. Die besonders gewieften Taktiker, die sich zuvor in Sprungnähe einer der wenigen Top Models aufhielten, durften alsbald ihre harte Hand verspüren, wenn sie zu oft mit der gleichen Dancing Queen über das Parkett schwebten. Die wenigen Ausnahmen von der brutalen Regel waren jene auserlesenen Paare, die durch auffällig gute tänzerische Leistungen hervor stachen und von " Ich Ingrid " mit der Gewähr einer festen Tanzpartnerschaft auf Zeit belegt werden konnten. Wie im Echtzeitleben von einst auch, waren es von 50 Paaren vielleicht 2. Der Rest musste den Kampf des Einzelnen mit der heran stürzenden Meute der Konkurrenten viele Male am Abend auf sich nehmen.
So erlitt mancher Jungmann buchstäblichen Schiffbruch bei der " Damenwahl ", wenn er zu rasant auf eine Dorfschönheit zu flog, weil er das Gleichgewicht bei dem Sprint verlor und kurz vor dem Ziel in die Knie ging, auf dem harten Boden der Realität oder den Schoss einer anderen, visuell eher unterdurchschnittlich ausgestatteten Teilnehmerin, landete.
Das höhnische Lachen der anderen Jungspunte und Landpommeranzen war ihm dann gewiss. Tanzmeisterin Döring kannte sie aber eben alle, die Kniffe, Verhaltensmuster und auch Fluchttendenzen, dann nämlich, wenn die " Damenwahl " für den auch nicht viel attraktiveren Provinzler in einem Super - Gau endete, weil er eine der Medusen abbekommen würde und sich deshalb klamm heimlich auf das stille Örtchen verdrücken wollte, um dort Eine zu rauchen. Mit einer nahezu an Lichtgeschwindigkeit ähnelnden Bewegung zog Ingrid ihren rechten Arm tentakelartig heraus, umklammerte die schmale Schulter des Milchreisbubis und stellte die unbeantwortet Frage: " Wohin so schnell, junger Mann? ", um diesen gleich an den nächsten Tanz zu binden, den sie jedoch mangels geeigneter technischer Fähigkeiten des Schülers sofort an die wartende Sitzengebliebene weiter vermittelte. Die Höchststrafe war dieses jedoch nicht.
Ingrid Döring suchte sich vor jedem Abend einen weniger Gelehrigen aus, mit dem sie den, zuvor vorgeführten Tanz, statt ihres Mannes nun erneut präsentierte. Die Grenzen des eigenen Könnens waren bei jenen Vorgeführten sofort erkennbar. Ingrid führte, der Schüler schob seinen Körper einfach nur mit. Tja, so gingen denn die Stunden, Abende und Wochen vorüber, ehe der Mittelball an stand. Zum Glück ergatterte ich hierfür eine wesentlich kleinere, aber dafür nicht hässliche Mitstreiterin, deren Namen ich zuvor bei Döring´s in eine Liste eintragen lassen konnte. Als dann eine Tischreservierung für das Tanzpaar nebst Eltern erfolgte, schien der Kelch an mir vorüber gegangen zu sein. Leider erkrankte die holde Partnerin und so saßen wir - zum Glück für mich - ohne Ersatzdame an dem Tisch. Dafür kam Ingrid Döring vorbei und jagte mich auf´s Parkett. Sie hatte nicht viel Vergnügen dabei, denn unmittelbar nach Ende des Stücks entschuldigte sie sich, um an die weiteren Tische zu gehen.
Den Abschlussball, an einem Dezembersamstag, so kurz vor Weihnachten, überstand ich auch noch. Dieses Mal mit einer ebenfalls durchschnittlich aussehenden jungen Dame aus Bückeburg, meinen Eltern und ohne Ingrid Döring, die wohl meine Unlust zu der gesamten Veranstaltung registriert haben musste. Sie erstattete dieses Mal nur einen Höflichkeitsbesuch am Tisch. Auch dieser Abend verging sehr schnell. Nach Ende des Tanzkurses war für mich glasklar, dass ich dort nicht wieder auftauchen werde.
Viele Jahre später erzählte ich meiner besseren Hälfte von jenen Erlebnissen damals und wir stellten fest, dass es für eine Tanzschülerin auch nicht immer einfach war. Nicht, weil sie sich vor den vielen ungeübten Tänzern wappnen musste und rechtzeitig die Fußtechnik veränderte, wenn einer der Partner gar zu ungehobelt zu trat, sondern dann, wenn sie zu den eher begehrten jungen Damen gehörte, die sich des massiven Andrangs von jungen Herren kaum erwehren konnte. So verunglückten denn gleich mehrere Aspiranten der Dresdner Tanzschule an jenem Nachmittag auf dem Parkettboden, als sie einen Raketenstart bei dem Schlagwort " Damenwahl " hinlegten, durch die glatten Sohlen ins Schleudern kamen, dass Gleichgewicht verloren und auf den Knien weiter rutschend vor dem Stuhl der Sitzenden zum Halten kamen, was bei der Tanzlehrerin zu dem Ausspruch führte:
" Aber, aber, meine Herren! Nicht so stürmisch! Jeder kommt hier mal dran!"
Der übrige Saal tobte, die anderen jungen Damen und Herren bogen sich vor Lachen und die Verunglückten entfernten sich mit hoch rotem Kopf von der potentiellen Tanzpartnerin.
Auch solche Erlebnisse gehörten zum nicht sehr lustigen Alltag eines Jugendlichen in den 60ern. Längst haben Tanzschulen, ihre Grundkurse und die damit verbundenen spießigen Verhaltensmaßregeln, ihren Schrecken von einst verloren. Viele der Anbieter mussten dennoch aufgrund der sich rasant verändernden gesellschaftlichen Wertmaßstäbe und des jeweiligen Zeitgeistes für immer ihre Türen schließen. Wer aber - so wie ich - die Alte Schule von einst noch mit bekommen hat, wird an ihr heute noch zehren können.
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