In Aljoscha Stepanow´s Garten.

Brrrrrrrh, ist das wieder kühl geworden! Der Mai - Anfang hat dem Sonnenanbeter keine schönen Tage beschert. Statt wunderbarem Grillwetter und milder, lauer Abende sprang eher eine gebratene Thüringer auf dem Elektrogrill im Keller heraus und die Heizung dabei an. Aber selbst eine solch schmackhafte Bratwurst gab es - zu meinen Leidwesen - auch an dem vergangenen Wochenende nicht, weil ein Besuch in meiner alten Heimat auf der Agenda stand. Und so trieb es uns am frühen Nachmittag des 1. Mai über die A 4, A 14 und A 2 in das Wolken behangene Weserbergland.

Auch hier hat der Frühling natürlich längst seine Zeichen gesetzt. Überall üppiges Grün, blühende Rapsfelder und sprießende Knospen. Da freuen sich nicht nur die Menschen, sondern auch die Haustiere. Und so scharten in des Nachbar´s Garten eine Vielzahl von Hühnern herum. Daneben hielten sich junge Gänse auf und weiteres Federvieh in Form von Tauben hatte sich auf das Dach eines Schuppens gesetzt. Ein wahrhaft ungewöhnlicher Anblick inmitten der sonst sterilen Gärten, der äußerst gepflegten Vorgärten und der in Schuss gehaltenen Häuser auf diesen Grundstücken. Daneben eben, Landidylle pur.





Der Halter jenes bunt durcheinander gewürfelten Federviehs ist ein Bundesdeutscher mit kasachischen Wurzeln. Dessen Eltern wanderten einst, also vor mehr als 40 Jahren aus der Kasachischen Sozialistischen Republik, die zu der UdSSR gehörte, aus. Sie lebten danach irgendwo im Schaumburgischen, haben dort Kinder groß gezogen und besuchten nun ihren vis´´ - a - vis wohnenden Sohn, den wir Aljoscha nennen, weil dieser Name einst in der UdSSR, wie hier Peter, Paul oder Hans so oft vorkam, dass es eben zu jenen Freizeit - Haustierhalter passen könnte.

Aljoscha, also, der Nachbar, mit kasachischen Wurzeln, die eigentlich von Beginn an Deutsche waren, hatte vor einigen Jahren das Grundstück der Familie Schwarze gekauft. Die vormaligen Eigentümer, die Familie Meier verstarb zum Ende der 1970er Jahre. Deren Tochter, die in den 1950er Jahren einen so genannten Spätheimkehrer der einstigen Deutsche Wehrmacht heiratete, erbte danach das Haus. Dann verstarb auch ihr Mann. Sie lebte über viele Jahre alleine in einem großen, alten Haus, auf einem noch größeren Grundstück. Dann verstarb auch Frau Schwarze. Das Grundstück erbte die Tochter. Die wiederum das Haus - Grundstück an Aljoscha verkauft hat.

Aljoscha begann vor einigen Jahren das Grundstück zu verändern. Er riss zwei Holzschuppen ab, fällte vielleicht ein Dutzend alten Bäume und zog einen Metallzaun herum. Danach errichtete Aljoscha nach und nach neue Schuppen. Einen für seine Gänse, einen für seine Hühner, einen für seine Tauben, die er zeitweise auch in dem Wintergarten unterbrachte. Die gefiederten Freunde kaufte er in Polen, weil sie dort wesentlich billiger sind. Er suchte die Eier der Rassehühner aus dem Stall und legte sie in einen künstlichen Brutkasten. Mittels einer speziellen Wärmelampe, die Tag und Nacht brannte, gelang es ihm, die ersten Hühner, später auch Gänseküken, groß zu ziehen.
Aljoscha, der Hühner - und Gänsezüchter?

Aljoscha´s Bestand an Nutztieren wurde dadurch immer größer. Er wollte auch Schafe, Ziegen und Schweine halten. Doch dazu benötigte er eine Genehmigung durch die Gemeinde. Und die sagte " Njet "!
Also begnügte sich Aljoscha mit dem Halten von Hühnern, Gänsen und Tauben.  

Er hatte dieses von seinem Eltern gelernt. Die hielten vor langer Zeit in Kasachstan auch Tiere. Schafe, Ziegen und Schweine. Sie mussten sich selbst versorgen. Das Geburtsland der Eltern, Kasachstan, ist zwar das 9. größte Land der Erde und besitzt mit 2.724.900 Km² beinahe 7 1/2 mal mehr Fläche als die Bundesrepublik, jedoch leben hier  nur 16.9340.000 Menschen und damit nur etwa 1/5 so viel wie hier. Und weil Kasachstan eben groß ist, jedoch wenig Menschen besitzt, ist es arm. Mit 13.000 $ wurde das BIP zuletzt berechnet.

Nachdem viele so genannte Deutsch - Russen während der Stalin - Diktatur in Arbeitslagern verbracht wurden, setzte in den 1970er Jahre eine Auswanderwelle unter dieser Bevölkerungsminorität ein. Eine weitere ereilte das Land nach dem Zusammenbruch der UdSSR und des Warschauer Pakts zu Beginn der 1990er Jahre.
Kasachstan erklärte 1990 den Austritt aus dem Riesenreich UdSSR und am 16.12. 1991 seine Unabhängigkeit. Dadurch konnte die einstigen Russlanddeutschen in der BRD übersiedeln.

Erwünscht waren sie indes hier nicht. In den Alten Bundesländern bestanden seit dem Kriegsende erhebliche Ressentimenzen gegenüber Kriegsflüchtlingen. Zunächst waren es Flüchtlinge, vulgo: Kartoffelkäfer, dann Aussiedler, später Übersiedler.
Allesamt keine wahren Deutschen - vielleicht sogar Menschen 2. Klasse?

Aljoscha indes war sehr fleißig. Er krempelte das gesamte, längst verwunschen aussehende  Grundstück in Bad Eilsen um. Keine uralten Bäume mehr, keine uralten Schuppen, keine Grabesstille.
Jetzt regiert die Kleintiernutzung. Hühner picken tagein, tagaus auf dem einstigen Rasen, junge Gänse schnattern umher und Tauben gurren auf dem Dachfirst. So, wie damals bei den Eltern irgendwo in der unendlichen Weite Kasachstans. Dort, wo die Menschen oft noch Selbstversorger sind.

Aljoscha´s Garten, ein Flecken Leben inmitten der Sterilität der Ein - und Zweifamilienhäuser vor dem normierten Neubaugebiet. Ein Stück Vergangenheit, eine Erinnerung an meine eigene Kindheit und Jugend, als Hühnereier noch von den frei lebenden Hühnern aus dem großen Hühnerstall geholt wurden. Als Hühner noch selbst geschlachtet wurden. Als es die Massentierhaltung und die industrielle Fleischproduktion nicht gab.
Seit einigen Jahrzehnten hält keiner der Nachbar mehr Nutztiere. Dafür gibt es jede Menge Hunde - und Katzenhalter. Die wiederum von der Tiernahrungsindustrie vermenschlicht werden.

Aljoscha´s Garten eine Idylle inmitten des hoch technisierten Umfeldes, mit samt seinen dazu zählenden Konsumwahnauswüchsen. Statt Hühner werden Autos gehalten, Motorräder und High - Tech - Fahrräder. Statt Hühnereier aus dem eigenen Stall werden KZ - Eier vom Supermarkt geholt. Statt Hühnerfleisch isst der moderne Mensch Fast Food.

Ich habe zwei Scheiben Weißbrot - vom Bäcker - in der Hand zerkleinert und stelle mich an den Maschendrahtzaun des elterlichen Grundstücks. " Put, put,put - put,put,put - put, put, put! ", rufe ich, bevor ich eine Hand voll Brotkrumen weit über den Zaun auf die Freifläche dahinter werfe. Wie von der Tarantel gestochen, schießen die über 30 Hühner auf das Brot zu. Die schnellsten von ihnen ergattern einen Krumen. Auch hier ist es, wie im übrigen Leben: Wer zuerst kommt, malt zuerst!
Eine zweite Hand voll folgt, eine dritte, eine vierte. " Put,put,put!", rufe ich erneut. Dann ist das Brot alle, die Fotos geschossen, das Thema für dieses Posting im Kopf.

Aljoscha´s Garten - ein Stück Nostalgie im Jahr 2014. Mutig ist er schon, der gelernte Schlosser mit kasachischen Wurzeln. Wer hält heute noch Nutztiere?
Ich kenne seinen richtigen Namen nicht und nenne ihn einfach Aljoscha Stepanow. Auf deutsch könnte dieser Name mit Alexander Stephan/Stefan übersetzt werden. Aljoscha ist der russische Kosename für Alexej. Abgewandelt aus dem Griechischen bedeutet er: der Beschützer.

Wir amüsieren uns über Aljoscha´s Kleintier - Zoo, über die Kleintier - und Nutztierhaltung.
" Aljoscha, sattele die Hühner, der Kolchos brennt!", frozzelt meine bessere Hälfte, die natürlich der russischen Sprache mächtig ist.
Wir lachen und gehen zurück ins Haus.
Ich erinnere mich danach an das wunderbare Lied von Hannes Wader:  " Jepstestinija Stepanowas Garten ".



Und weil der Hannes auch noch ein Lied von einer in der Nähe von Bad Eilsen gelegenen Stadt, nämlich Hameln, komponiert hat: " Der Rattenfänger ", schiebe ich das noch gleich hinter her.









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