Wolfgang Neuss ( Neuß) war der Mann mit der Pauke, ein Kabarettist der ersten Stunde und ein non-konformer Chaot.
Am 05. Mai 1989 verstarb in Berlin Wolfgang Neuss. Besser bekannt als der Mann mit der Pauke. Wolfgang Neuss - amtlich als Hans Wolfgang Otto Neuß geführt - wurde am 3. Dezember 1923 in Breslau / Niederschlesien, dem heutigen Wroslaw, der viert größten Stadt Polens, geboren.
Wolfgang Neuss kam als Sohn von Otto und Elisabeth Neuss (geb. Gebauer) zur Welt. Er hatte eine Schwester Eva (später verheiratete Eva de Bouyse). Nach der Volksschule begann Neuss eine Lehre als Schlachter, ging dann aber mit 15 Jahren nach Berlin, um dort Clown zu werden. Dieser Ausflug endete in der Jugendverwahranstalt des Berliner Polizeipräsidiums am Alexanderplatz. Neuss war dann während des II. Weltkriegs dem Arbeitsdienst ( Straßenbau ) zugeteilt und wurde 1941 an die Ostfront abkommandiert, wo er mehrmals wegen einer Kriegsverletzung behandelt werden musste bis er sich schließlich durch einen Schuss in den rechten Zeigefinger selbst verstümmelte. Der weitere Lebenslauf, seine " Curriculum Vitae " ließt sich wie eine typische Nachkriegsgeschichte; nur aus der Vogelperspektive.
1949 lernte er einen zweiten Wolfgang, nämlich Wolfgang Müller kennen. Mit ihm arbeitete er bis zu dessen tödlichen Flugzeugabsturz in der Schweiz im Jahre 1960 in vielen Filmen und Projekten zusammen.
In den Nachkriegsjahren Westdeutschlands und West-Berlins ging es immer noch drunter und drüber. Für Kultur war keine Zeit, denn der Wiederaufbau war im vollen Gange. Nur die wieder Vermögenden gönnten sich des öfteren eine Abwechselung und besuchten auch ein Kabarett. Jene Einrichtung also, die sich in den 20ern des letzten Jahrhunderts von Frankreich aus kommend, auch hier etabliert hatten. Kabarett, das war zunächst nur platte Unterhaltung, das waren etwas leicht bekleidete Tänzerinnen und das war viel Show und Gesang in extravaganten Outfit.
Diese Art Kabarett wurde von den beiden Wolfgangs in den 60er Jahren jedoch nicht gezeigt. Zusammen mit den unvergessenen Eckhard Hachfeld,der eigentlichen Mutter des (politischen) Kabaretts Ursula Herking, dem Texter Dieter Koch alias "Thierry", dem Berliner Urgestein Wolfgang Gruner ( noch ein Wolfgang ) und den noch lebenden Dieter Hildebrandt formierte er die "Stachelschweine" oder auch die " Berliner Stachelschweine". Der Jahre langen Nummer 1 des Kabaretts.
Für einen Eklat sorgte Wolfgang Neuss im Jahre 1962. Das WiWu war bereits am abklingen, Erhard, der einstige CDU/CSU - Bundeskanzler, drohte mit " Maß halten!" und der BRD-Spießer kaufte sich sein eigenes Pantoffel-Kino in Form eines Schwarz-Weiß-Fensehgeräts, das den Abmaßen einer heutigen Kühltruhe entsprach.
Wolfgang Neuss hatte mittels einer Zeitungs-Werbeannonce am Vortag der Ausstrahlung des letzten Teils des sechsteiligen Fernseh-Krimis von Francis Durbridge " Das Halstuch " den Zuschauern ( es waren nur einige Millionen,deshalb erzielte die ARD eine Traumquote von 90% ) den vermeintlichen Mörder benannt. Die Zuschauer forderte er gleichzeitig auf, statt dessen seinen eigenen Film "Genosse Münchhausen" im Kino anzusehen. Später behauptete er, den „Halstuchmörder“ allerdings auch nur erraten zu haben; nach einer anderen Darstellung wäre es seine Mutter gewesen, die ihm durch einen Darsteller der Fernseh - Serie ( den damaligen Schauspieler Dieter Borsche ) den Namen des Mörders weiter gegeben haben soll. Die Durbridge-Krimis waren in dieser vermieften Zeit des noch biederen deutschen Fernsehens so genannte Straßenfeger. Jeder, der öffentlich mitreden wollte, musste diese deshalb auch gesehen haben. So kam es nicht von ungefähr, dass die Presse nicht nur das Verhalten von Wolfgang Neuß zum " Skandal " hoch stilisierte, sondern auch gleich - als Retourkutsche - die Zuschauerreaktionen veröffentlichte, jene von Hetze und Beleidigungen gegen Neuss nur so triefende Leserbriefe; es kam sogar zu Morddrohungen und die "BLÖD"-Zeitung - schon damals nicht gerade zimperlich mit Non-Konformen umgehend - bezeichnete Neuss wegen des Spoilers sogar als „Vaterlandsverräter“.
Mitte der 60er erlangte Wolfgang Neuss durch seine Auftritte im Fernsehen, das regelmäßig die aktuellen Programme der "Stachelschweine", der "Münchner Lach-und Schießgesellschaft" und des " Düsseldorfer Komödchen " übertrug, einen hohen Bekanntheitsgrad.
Das politische Kabarett hatte inzwischen einen festen Platz im Abendprogramm des Ersten Fernsehprogramms erhalten. Selbst zu Silvester strahlte die ARD einen Auftritt der "Stachelschweine " aus, deren Protagonisten dann einen eigenen Jahresrückblick in Form einer beißenden Kritik an den bestehenden Verhältnissen, der Politik und der Wirtschaft abgaben.
Auch wenn weder meine Großeltern, noch meine Eltern, geschweige denn ich, sehr viel von den verbalen Seitenhieben, die Neuss, Hildebrandt, Herking, Striezel,Drechsel und andere verteilten, verstanden, so war die generationsübergreifende Einigkeit darin zu sehen, es bereits mit dem Zuschauen dieser Sendung " Denen da oben " ordentlich gegeben zu haben, weil Wolfgang Neuss und seine Mitstreiter es immer verstanden, die Dinge beim Namen zu nennen und sie so auszusprechen, wie sie nun einmal waren: ungerecht, in Richtung einer Drei-Klassengesellschaft gehend.
Nun, auch sonst war Wolfgang Neuss ein zu dieser Zeit sehr politischer Mensch. Er erarbeitete ein Programm mit dem Ost-Berliner Liedermacher Wolf Biermann, engagierte sich gegen den Vietnam-Krieg und produzierte zusammen mit weiteren politischen Liedermachern und Künstlern, wie Dieter Süverkrüp, Franz-Josef Degenhardt und Hans Dieter Hüsch eigene Texte, die sich mit der Studentenbewegung ab dem Jahr 1967 befassten.
Neuss wurde auch deshalb wieder zur gehassten Feindfigur der rechtslastigen Presse und der mit Ex-Faschisten durchsetzen Öffentlichkeit sowie jener, von ihnen systematisch aufgehetzten Masse der Blödmichel:
" Auf dem Höhepunkt einer unter anderem von einer Bildzeitung getragenen Pressekampagne und nach einem gescheiterten Bombenattentat erklärte sich Neuss in einem Briefwechsel mit Willy Brandt zum „politischen Flüchtling“ und fuhr nach Schweden. Sein Aufenthalt dort dauerte jedoch nur einige Wochen. Nach einer Tournee durch die Bundesrepublik mit dem Programm „Neuss Testament“ kehrte er nach West-Berlin zurück. Dort schloss er sich der APO an und nahm an Demonstrationen, Sit-ins und anderen politischen Aktionen teil. 1967 bis 1969 war er aktiv im Republikanischen Club in West-Berlin. Die Pauke, mit der er nun üblicherweise auftrat, sollte auf unbeachtete Missstände und ungeklärte Widersprüche hinweisen. "
- Zitatende -
( Aus WIKIPEDIA - Wolfgang Neuss - )
Neuss verschwand Ende der 60er - wohl auch durch die Hetz - und Verleumdungskampagnen der Springer-Presse gegen ihn entnervt - aus der Öffentlichkeit.
Er reiste1969 nach Chile.Zuvor hatte er den chilenischen Studenten - und Stipendiaten Gaston Salvatore, einem Neffen des später von Faschisten ermordeten Staatspräsidenten Chiles Salvadore Allende kennen gelernt.
Nach der Rückkehr von Wolfgang Neuss machte dieser sich weiterhin in der Medienöffentlichkeit rar. In den 70er Jahren spielte er nur noch sehr vereinzelnd in Filmen mit.
Gaston Salvatore schrieb 1974 ein Buch über den Kabarettisten, Schauspieler, Textschreiber und Künstler Wolfgang Neuss. Es trägt den Titel:
Wolfgang Neuss - ein faltenreiches Kind
Salvatore, Gaston. - Hamburg : Europ. Verl.-Anst., 1995, Unveränd. Neuaufl. der Erstausg., Frankfurt am Main, S. Fischer, 1974 / mit einem Nachw. von Siegward Lönnendonker und einem kommentierten Personenreg. von Volker Kühn.
Bereits zu dieser Zeit war bekannt, dass Wolfgang Neuss ein Drogenproblem hatte. Er geriet deshalb ab den frühen 70er Jahren mehrfach mit der Justiz in Konflikt und wurde von Berliner Gerichten zu Freiheitsstrafen auf Bewährung verurteilt. Der Drogenkonsum bestimmte hiernach sein weiteres Leben. Neuss lebte zeitweise in Berlin von Sozialhilfe, ehe er ab 1980 ein Comeback versuchte.Mit einigen - dann regelmäßigen - Fernsehauftritten und einer eigenen Sendung " Neuss am Tage " ( vom WDR ausgestrahlt ) hielt er sich finanziell über Wasser. Legendär sind seine Auftritte und Beiträge, für die er zuvor sein Gebiss entfernte, um die Zuschauer zu schockieren und jene Sendung " Leute " im III. Fernsehprogramm, in der er am 5. Dezember 1983 den späteren Bundespräsidenten "Ritchie" Richard von Weizäcker öffentlich vorführte.
Nach dem eher kurzen künstlerischen Wiederaufstieg lebte Wolfgang Neuss ab 1984 in einer unmöbilierten Berliner Wohnung, die er mietfrei von dem Rechtsanwalt Klaus Groenevold überlassen erhielt. Hier vegetierte er bis kurz vor seinem Tod herum. Wolfgang Neuss starb am 5. Mai 1989, eben wenige Monate vor der Maueröffnung an Krebs.
Wolfgang Neuss war - nicht immer - ein vom Zeitgeist getriebener kreativer Chaot,ein politischer Querdenker und undogmatischer Linksintellektueller, der sich später weder verbiegen und verbrauchen ließ.
Ein Archaeopteryix der Kleinkunst, nachdem er - zusammen mit anderen Kabarettisten - den Muff aus den 50er und 60er Nierentisch-Wohnzimmern der verspießten BRD-Gesellschaft heraus gelassen hatte, schaute er auch danach, der sich langsam von der pseudo - klerikalen Adenauer-Ära befreienden und sodann in anderen Bereichen formatierten Gesellschaft immer wieder aufs Maul. Wolfgang Neuß sprach dabei unaufgeregt, undogmatisch und unbotmäßig jene Dinge aus, die der Realität eher entsprachen als jenes Polit-Gesülze in der damaligen Zeit. Gedankt haben es ihm nur wenige - zumeist nur enge Freunde oder Vertraute - aus dem Künstlerkreis. Zu unkonventionell waren später seine Darbietungen. Vom Jahre langen Drogenkonsum gekennzeichnet, von den tiefen Wunden, die ihm das "Scheißhausblatt" aus Berlin mittels Lügen - Hetzartikeln beigebracht hatte, geprägt, verabschiedete sich spätestens zu seinem 65. Geburtstag ein Mann, der ein Stück westdeutscher Zeitgeschichte nicht nur miterlebt, sondern persifliert hatte.
Als ich 1983 das Taschenbuch mit dem Titel " Der Mann mit der Pauke " geschrieben von eben Gaston Salvatore erwarb ( Preis: 12,80 DM ) konnte ich es nur in längeren Zeitabschnitten lesen. Es endet - nachdem er aus Chile zurück gekehrt war, die Ereignisse der Verhaftung und seiner Abschiebung, nach nur einem Tag des Aufenthalt in Santiago de Chile noch in den Knochen, nach dem Untertitel " Berliner Exil ", in dem das Spießrutenlaufen nach seiner Rückkehr beschrieben wird, mit " Der Gerichtsvollzieher ".
" Heute kam der Gerichtsvollzieher. Genau wie Gerichtsvollzieher sind, stand er vor der Tür. Er hatte sie geöffnet. Jeder kann die Tür meiner Wohnung öffnen. Der Schlüssel hängt immer, auch wenn ich weg bin, an einer Strippe. jeder kann ihn aus dem Briefschlitz ziehen.
" Guten Tag ", sagte er höflich. " Sind sie Herr Neuss, nicht wahr? "
Ich kenne Sie vom Fernsehen. "
- Wie er heruntergekommen ist - muß er gedacht haben. Ich sehe wie eine alte Indianerfrau aus. Meine Haare fallen auf die Schultern. Ich trage immer die selben zerfetzten Jeans. Ich war barfuß.
" Grüß Gott ", sagte ich. " Treten Sie ruhig ein. "
Der Gerichtsvollzieher - " gestatten Sie? " - sah sich meine Wohnung an.
" Nichts zu pfänden. ", stellte er traurig fest.
" Wer zahlt ihre Wohnung, Herr Neuss? "
In meiner Wohnung stehen fast keine Möbel. Nur ein umgekippter Sessel in einer Ecke, auf dem ich meditiere. Ich besitze keinen Plattenspieler, keinen Fernseher. Nur ein kleines Radio. Seit langem lebe ich von Freunden. Die Freunde, die für mich bezahlen, besuchen mich kaum. Andere Freunde besuchen mich, weil sie noch weniger Geld als ich haben. Also durfte ich keinen Besuch erwarten.
Diese Freunde haben an meine Fenster lauter Sonnen gemalt. Bei mir ist immer Mittag.
" Nichts zu pfänden. ", wiederholt der Gerichtsvollzieher.
Er sah unscheinbar aus. Er erinnerte mich an Feltrinelli. ( Anm.: Giangiacomo Feltrinelli war ein italienischer Verleger, der sich später dem radiaklen Linksspektrum anschloss. - d.Verf. ) Auch die Ungerechtigkeit des Lebens ist ein Gemeinplatz.
Mir tat der Gerichtsvollzieher wirklich leid.
" Möchten Sie einen Tee mit mir trinken? ", fragte ich ihn.
Entsetzt sah er mich an. Meine Reaktion hätte auch kein Gerichtsvollzieher erwartet. Ich lächelte ihn an. Der Gerichtsvollzieher wurde blaß und antwortete nicht.
" Sie brauchen keine Angst vor mir zu haben ", sagte ich ihm. Der arme Mann war an die Angst der anderen gewöhnt. Plötzlich sagte da einer, daß er keine Angst zu haben brauchte.
" Setzen Sie sich doch. Ich freue mich ehrlich über Ihren Besuch. Sehen Sie, meine Freunde besuchen mich nicht, weil ich kein Geld habe. Und Sie, Sie sind eben deswegen zu mir gekommen!"
Dann lachte ich. Ich kann entsetzlich laut lachen.
Als ich aufhörte, war der Gerichtsvollzieher geflohen. Die Tür blieb offen.
Den Rest werde ich mir selbst erzählen. "
- Zitatende -
( Aus Gaston Salvatore, Der Mann mit der Pauke - Wolfgang Neuss -, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg, Juni 1983, S. 446 ff )
Wie ich schon sagte: " Mitnehmen können wir alle nichts. "
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