Bad Eilsen - Neßmersiel - Baltrum und zurück


Als ich am 2. Januar 1974 die mausgraue Arbeitskleidung, den kleinen Dienstanzug und die oliv - grüne Kampfkleidung nebst Stahlhelm und G 3 mit einem mausgrauen Kittel eingetauscht hatte, war für mich sonnenklar, dass ich den erstgenannten Plunder  nie wieder, noch den Verkäuferkittel für längere Zeit wieder  anziehen werde.

Am 16. April 1974 begab ich mich deshalb in das Abenteuer Abitur über den 2. Bildungsweg. Dieses begann mit dem Besuch der Klasse 10 als Berufsaufbauschule in Stadthagen. Die Abschlussprüfungen sollten später im März zum Erlangen der Fachschulreife erfolgen. Daran schloss sich die Klasse 12 als Fachoberschule an. Wer - so wie ich - eine dreijährige Berufsausbildung vorweisen konnte - bekam die 11. Klasse anerkannt. Eine Ochsentour, denn binnen zwei Jahren sollte der Abschluss zum Besuch eines Fachhochstudiums befähigen sollte. Zu den großen Reformen der Sozialliberalen Koalition bei Brandt / Scheel und später Schmidt / Genscher zählten auch jene, mit denen versucht wurde, das völlig verkrustete, dreigliedrige Schulsystem der BRD aufzuweichen. Ein mühseliges Unterfangen, denn in den Bildungsministerien der Länder, die nach dem westdeutschen Grundgesetz hier die Regelungshoheit haben, gab es eine Unzahl von schwarzen, reaktionären Dogmatikern, die das alte System immer noch als Segen bürgerlich ausgeprägter Bildung bewerteten und den Reformplänen mehr als skeptisch gegenüber traten; diese häufig sogar unterliefen.

Deshalb richtete die niedersächsische Landesregierung, obwohl mit einem sozialdemokratischen Kultusminister, der eher zu den so genannten Reformern zählte, lediglich einige, wenige Schulen für die 2. Bildungsweg ein. Peter von Oertzen ( SPD ) wollte wohl damit den Druck, den die CDU und ihre konservativen Betonköpfe auch auf sein Ressort ausübten, um weitergehende Reformen zu verhindern, nehmen.

Finanziell wurden die Einrichtungen des 2. Bildungswegs über das Bundesausbildungsförderungsgesetz ( BaföG ) abgefedert. Damit sollte es möglich sein, auch weniger betuchten Familien ,das waren überwiegend Arbeiter und gering qualifizierte Angestellte ( die es einst noch massenhaft gab ), einen Zuschuss für den Versuch, den Kindern ( die es ebenfalls in rauen Mengen gab ) zu einer höheren Ausbildung zu verhelfen.
Gut, ja, gut, ich sach´ma´: Wer - so wie ich - aus einem Geld orientierten Elternhaus stammt, dem nützte das BaföG nur bedingt, um sich die eigenen Wünsche neben der Schulausbildung zu erfüllen oder besser: Um diese wenigstens teilweise zu verwirklichen.
So erhielt ich von den 310 Deutsche Mark als BaföG - Zahlungen, die monatlich auf das Konto meiner Eltern / Mutter flossen, immerhin noch 150 DM in die Hand gedrückt, die ich mir zurücklegte und davon meinen roten R 4 unterhielt. Da ich jedoch in der überaus glücklichen Lage war, während meiner Dienstzeit beim Bund einen durchaus nennenswerten Betrag auf mein Volksbank - Sparbuch zurücklegen zu können, hob ich nach Bedarf, den einen oder anderen Betrag für Autoreparaturen, Autosteuern, Versicherungen und natürlich für Plattenkäufe in Hannover´s LP - Läden ab.

So auch im Herbst 1974 für die Fahrt nach Neßmersiel, um von dort aus eine Bekannte auf der Insel Baltrum zu besuchen. Wir hatten uns zuvor auf einem der vielen Musikveranstaltungen, die es in der Tat auch schon auf dem platten Lande gab, kennengelernt. Sie hatte die Realschule besucht und anschließend eine Banklehre absolviert. Das hielt B. nicht davon ab, die Brocken dort irgendwann hinzuwerfen und in den Jahren danach diverse Jobs anzutreten, die sie nach höchstens einem Jahr wieder schmiss. Jetzt arbeitete sie bei der Sparkasse auf der ostfriesischen Insel Baltrum. Nach den Sommerferien, wenn die Urlaubermeute wieder abgezogen war, wollte ich sie besuchen. Eigentlich an einem Wochenende. Wegen der Entfernung und der nur zwei Mal pro Tag pendelnden Fähre, verschob ich den Besuch dann auf die Herbstferien.

Die begannen am 30. September und endeten am 12 Oktober 1974. Ich suchte mir aus einem Straßenatlas eine Karte heraus und schrieb mir die Dörfer, Orte und Städte, die ich auf meiner mehr als 6 Stunden - Odyssee quer durch den nordwestdeutschen Raum Niedersachsens durchfahren würde. Am 2. Oktober packte ich meine blaue Reisetasche, schmierte mir zwei, drei Stullen, legte einen Apfel in den Beutel, kontrollierte meinen " Drum " Tabakvorrat, schaute in mein Portemonnaie und fuhr auf der B 65 in Richtung Bückeburg. Dort durch die Stadt nach Minden. Hier tanke ich an einer damals hinter der Klus liegenden Freien Tankstelle den R4 voll und überquerte die Weserbrücke in Minden, um nach Diepenau, Rahden bis zum längsten Dorf in Westdeutschland, nämlich Wagenfeld zu gelangen. Dort ging es über Wetschen, Drebber, Barnstorf, Drentwede nach Twistringen.

In Twistringen bog ich in Fahrtrichtung Bekeln, Harpstedt, Prinzhöfte ab und gelangte von dort bis nach Ganderkesee, wo ich auf die zweispurig ausgebaute Bundesstraße B 75 bis Oldenburg fuhr. Dort ging es weiter in Richtung Wiefelstede. durch Spohle, Neuenburg nach Ostfriesland. Ich durchfuhr die Orte Marx, Strudden, Friedeburg, Reepsholt, Leerhafe und kam in die Stadt Wittmund.
Dort bog ich nach Esens, Dornum und Holtgest ab. Es folgte mein Zielort Neßmersiel.

Nach etwa 240 Kilometern und beinahe 5 Stunden Fahrtzeit stellte ich den R4 auf eine, als Parkplatz umfunktionierte, eingezäunte Wiese ab. Der bewachte Abstellplatz besaß ein Holzhäuschen in dem ein Parkwächter mir eine Parkkarte verpasste. Er gab mir gleich den Hinweis, diese ja nicht zu verlieren, sonst würde es pauschal 100 DM kosten. Auf der Tafel standen zudem gleich die Gebühren. Bis 7 Tage kassierte der Bauer einen Tagespreis von 5 DM. Darüber hinaus - wie Autofahrer freundlich - nur 4 DM pro Tag. Ich schloss den französischen Gartenstuhl ab und ging über den Deich in Richtung Fährhafen. Die einstige Fähre tuckerte bereits in den Anlieger hinein. Einige Menschen verließen das Boot. Dann wurden Waren, Fahrräder und sonstige Gerätschaften eingeladen, ehe die Passagiere einchecken durften. Natürlich nicht ohne den Fahrpreis von fast 10 DM pro Fahrt zu begleichen. Hierzu kassierte ein Mann von jedem Fahrgast den Betrag in bar ab.

Dann tuckerte die Nußschale irgendwann los. Die See war zum Glück relativ ruhig. Damit benötigte das Boot zirka eine Dreiviertelstunde.
Nach dem Einlaufen am Inselhafen erwartete mich meine Bekannt B. dort und führte mich zu ihrem Quartier, dass in einem Gebäude der dortigen Sparkasse lag.

Die Insel ist eher überschaubar. Mit ihren 6,2 Km² wird sie als die kleinste der bewohnbaren Ostfriesischen Inseln geführt. Auf ihr leben derzeit 610 Einwohner.
Auf der Insel existiert ein absolutes Verbot für PKW und andere motorisierte Fahrzeuge; womit Baltrum als weitestgehend autofrei gilt.

https://de.wikipedia.org/wiki/Baltrum

Die Besuchstage vergingen schnell. Obwohl das Kulturleben auf der Insel einst zur Herbstzeit gen Null tendierte, verbrachte ich die Tage mit langen Strandspaziergängen; Lesen und Fernsehglotzen sowie Fotografieren und netten Gesprächen über Rockmusik. Aufgrund der eher seltenen und auch seltsamen Vor - und auch Nachnamen vieler Insulaner, die Onno, Enno oder Tasso oder Tammen, Onnen, Lüppen und auch Bengen hießen, amüsierte ich mich köstlich, als B. von jenen Menschen erzählte, die nahezu täglich in die Sparkassen - Filiale kamen.

Acht Tage später fuhr ich mit der Fähre zurück. Am Parkplatz angekommen musste ich erst die 32 DM an den dortigen Wächter bezahlen, ehe dieser die Schranke zur Ein - und Ausfahrt hoch drehte. Zuvor aber erlebte ich eine schöne Überraschung. Aufgrund der tagelangen, intensiven Regenfälle hatte sich knöchelhoch Wasser auf dem Bodenblech des Renault gesammelt. So nahm ich eine Decke, die auf der Rückbank lag, saugte das Wasser damit zum Größenteil  auf  und fuhr in Richtung Bad Eilsen zurück. Trotzdem bekam ich nicht nur nasse Turnschuhe, sondern zudem beschlugen bei der Fahrt sämtliche Scheiben, weil das Gebläse die Feuchtigkeit nicht aus dem Innenraum der französischen Konservendose austrocknen konnte. Der Parkwächter grinste sich Einen, als er mich am Auto herum werkeln sah. Er kannte aus Einheimischer nicht nur das Schietwetter im Herbst, sondern wohl auch das damit verbundene Problem einiger Autos.

Während der fast fünfstündig Rückfahrt von Neßmersiel nach Bad Eilsen wurde mir natürlich auch klar, dass ich die Insel Baltrum allenfalls im Fernsehen  wieder sehen würde, weil B. sich für nächsten Job bei einer Bank in Zürich beworben hatte. Immerhin konnte ich mehr als eine Woche Seeluft einatmen. Und Regen gab es zudem nur in Neßmersiel und auch danach.

https://de.wikipedia.org/wiki/Neßmersiel

" Last Day Of May " mit " Sand, Sea & Space " - 1997:




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