Der einsame Tod des Bernd H. aus E.
Es ist schon viele Jahre her, als ich bei einem Besuch in meinem Geburtsort erfuhr, dass eine ehemaliger Schulkollege, mit dem ich zwei Jahre in Stadthagen die Berufsaufbauschule und Fachoberschule besucht hatte, längst nicht mehr am Leben sei. Er hatte sich - so die Schilderungen aus meinem familiären Umfeld - irgendwann ab Mitte der 1990er Jahre vor einen Zug geworfen.
Dieser fuhr aus Hannover kommend in Richtung Minden und weiter.
Kein schönes Ableben, kein wunderbarer Tod.
Bernd H. aus E. begegnete mir zum ersten Mal im April 1974 in der BAS - Klasse in Stadthagen. Er hatte die Klasse wiederholen müssen. Auch beim zweiten Anlauf waren seine gezeigten Leistungen, seine Noten nicht gerade berauschend. Zudem wurde Bernd H. fast zu einem Außenseiter in der Klasse. Er hatte große Probleme sich in die Klassen - Hierarchie einzubinden. H.wurde deshalb eher zu einem geduldeten Mitschüler, mit dem eigentlich kein anderer Schüler etwas zu tun haben wollte. Er zeigte sich eher schrullig, kauzig und ein wenig unnahbar.
Als die Prüfungen im März 1975 beendet waren, stand fest, dass Bernd H. die 10. so gerade mit Ach und Krach geschafft hatte.
Dennoch versuchte er sich mit der FOS, der 12. Klasse, die zum Studium an einer Fachhochschule berechtigte, ab April 1975 in Stadthagen. In den ersten Wochen und Monaten hieß es dann bei der Notenvergabe zu den geschriebenen Klausuren: " Herr H., 4 oder Herr H., 5 ! ".
Die Sommerferien nahten. Zusammen mit zwei weiteren Mitschülern und einem Bekannten aus Bückeburg, hatten wir eine Reise nach Spanien geplant. Über ein Reisebüro dort buchten wir ein Appartement in dem spanischen Ort L´Estartit an der Costa Brava. Auch Bernd H., der bei uns Anschluss suchte und ab und zu mit seinem VW Käfer auch vor dem einstigen Treffpunkt, dem " Minchen " in Bückeburg stand, wollte mit uns mitfahren. Mit einigen Bedenken sagten wir ihm zu.
H. war immer noch nicht besonders beliebt in meinem Bekanntenkreis nicht und in der Klasse schon gar nicht. Seine Art des Auftretens gefiel zudem nicht allen meinen Bekannten. Er galt auch hier als schleimig, irgendwie unnahbar und sein Auftreten wirkte bei meinen Freunden und Bekannten sowie den Mitschüler eher abstoßend. Er blieb weiterhin eher der Außenseiter. Dennoch fuhr er mit uns mit, als wir das Abenteuer der Spanien - Reise antraten.
Der knapp 14tägige Urlaub in Spanien wurde zu dem, was er eigentlich von Beginn an hätte werden müssen - eine mittlere Katastrophe. Was können fünf junge Männer in einem fremden Land mit viel freier Zeit eigentlich anfangen? Nichts! Nichts, außer Disko - Besuchen, Strandbesuchen und nächtlichen Trinkgelagen. Deshalb eskalierte das enge Zusammenwohnen und die damit verbundenen Stresssituation bereits nach einigen Tagen.
Wir hatten eine dieser - schon damals - völlig überteuerten Bootsfahrten gebucht. Diese sollte uns entlang der Küste durch und an einer Vielzahl von Höhlen vorbei führen. Sie endete bei mir damals in einem Sangria - Rausch. Auf der Nußschale, die uns von einer Landzunge zur nächste schippern ließ, füllten uns die spanischen Mitarbeiter des Veranstalters mit dem Gesöff ab. Ich schwankte nach dem Ende der Tour laut grölend durch die engen Gassen des Fischerortes L`Estartit. Bernd H. begleitete mich dabei und versuchte mich vor anderen Gästen, die sich lachend umdrehten, ordentlich vorzuführen.
Nachdem ich meinem Rausch am nächsten Morgen ausgeschlafen hatte, erzählten mir die anderen Mitbewohner von dem Verhalten des Bernd H. Ich stellte ihn zur Rede. Danach war auch der letzte Rest an Sympathie für ihn bei mir entschwunden. Ich rede in den anschließenden Urlaubstagen mit ihm keine Wort. Irgendwann entschuldigte er sich dann. Doch ich hielt mich zu ihm auf Distanz.
Die Urlaubstage in Spanien gingen zu Ende, die Ferien auch und die Schulausbildung ebenso. Ich verließ die Gegend, um ein Studium zu beginnen, Bernd H. blieb dort. Er wohnte auch weiterhin bei seinen Eltern. Er hatte einen Job in einem mittelständischen Betrieb in Minden, das nur wenige Kilometer von dem elterlichen Haus liegt, angenommen.
Die 70er Jahre endeten. Ich baute mein Diplom an der HFW in Bremen und durfte mich fortan Diplom - Betriebswirt ( FH ) nennen. Bei Bernd H. hatte sich nicht viel verändert. Er lebte immer noch Zuhause und arbeitete in der Nähe. Er fuhr weiterhin VW. Allerdings jetzt einen Golf. Ich traf ihn irgendwann vor dem Examen in Bückeburg bei dem vormaligen Kaufhaus Schild.
Es war ein kurzes Gespräch. Er hatte angeblich wenig Zeit. Er wird sich wohl eher dafür ein wenig geschämt haben, dass aus ihn kein Student mit spinnerten politischen Vorstellungen, mit einem Weltverbesserungs - Gen im Hinterkopf und Szene - Klamotten geworden war.
Die 80er Jahre verflogen. Die Welt hatte sich völlig verändert. Bernd H. indes nicht. Auch seine persönliche Situation nicht. Nur, dass er mittlerweile - so wie ich die 30 Lenze überschritten hatte. Ich war längst als Rechtsanwalt tätig. Bernd H. verdingte sich immer noch in der Mindener Firma, wohnte bei seinen Eltern und fuhr weiterhin VW.
Als die 1990er Jahre eingeläutet wurden, lebte ich bereits 12 Jahre in Bremen, wollte eigentlich nach der " Wende " in die Neuen Bundesländer, im mit einem Kollegen dort eine neue berufliche Herausforderung anzunehmen. Doch ich blieb in Bremen, heiratete und wurde Vater. Bernd H. lebte seit seiner Geburt bei und mit seinen Eltern. Er heiratete nicht, wurde auch kein Vater und wollte weder umziehen, noch seinen Job wechseln.
Das Millennium drohte. Ich war längst wieder geschieden, lebte zu dieser Zeit nicht mehr in Bremen und wollte eigentlich auch nicht mehr umziehen.
Kurz vor der Jahrtausendwende muss Bernd H. erkannt haben, dass sein Leben keinen Sinn mehr hat. Er fühlte sich wohl überflüssig. Es werden möglicherweise die dunklen Gedanken gewesen sein, die ihn in den Freitod trieben. Jene Vorstellungen davon, dass das öde, das als verpfuscht betrachtete, das glücklose Leben mit einer Entschluss, diesem ein Ende zu bereiten, damit auch endgültig vorbei sein würde.
Bernd H. warf sich irgendwann vor dem weltweit zelebrierten Jahreswechsel von 1999 zu dem neuen Jahr 2000 vor einen heran jagenden Zug. Auf der Strecke von Hannover nach Minden oder Bielefeld. Die ICEs prügeln hier mit 160 Sachen und mehr durch die Landschaft. Ein kurzer Schritt vor oder in den Gleiskörper, ein dumpfer Aufprall, ein Schlag, den der Lokomotiv - eher Zugführer nur binnen Bruchteilen von Sekunden registriert, dann die Notbremsung einleitet und der Zentral von dem Unfall berichtet. Die gibt es dann als " Betriebsstörung " weiter.
Der Bahnbetrieb wird sofort unterbrochen. Für viele Stunden. Die Rettungskräfte treten auf den Plan. Die Polizei nimmt die Ermittlungen auf. Die Bahn steht innerhalb dieser Zeitspanne zumindest auf dieser Strecke vollkommen still.
Binnen Bruchteilen von Sekunden hatte Bernd H. seinem Leben ein Ende gesetzt. Volkskrankheit Depressionen! Ja, das ist eine solche. Es erkranken hieran viele Menschen, die das eigene Leben vergeblich zu meistern versucht haben. Bernd H. war über Jahrzehnte einsam. Er wird sich unverstanden gefühlt haben und unnütz vorgekommen sein. Der Freitod, die letzte Instanz? Mag sein, aber das Leben geht weiter. Auch für den Zugführer und die vielen Rettungskräfte, die sein Tod auf den Schienen auf den Plan gerufen hatte.
Obwohl Bernd H.´s Tod ein einsamer Abschied aus dem Leben, von dieser Welt war, ist er danach nicht mehr einsam geblieben.
Gut´s Nächtle mit:
" Sula Bassana " und " Modulfix " - " Brain Wash " - 2010:
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