Guxhagen - Breitenau: Ein Mosaikstein im dunklen Feld der westdeutschen Nachkriegsgeschichte?


Vor einigen Jahrzehnten, als Zeit und Entfernung noch keine Rolle spielten,fuhr ich zusammen mit einigen Bekannten auf der A 7 in Richtung Kassel,um dann über
die A 5 in Richtung Bernkastel-Kues und
Traben-Trabach an die Mosel zu gelangen.
Einige Abfahrten hinter Kassel fiel mir damals die Abfahrt mit dem ungewöhnlichen Namen " Guxhagen " auf. Das klang für mich heimisch, so wie Stadthagen, Wendthagen oder Petershagen. Hagen, das wusste ich noch aus der Heimatkunde, bedeutet eine bestimmte Ansiedlungsweise. Eine ursprüngliche Siedlung, ein Dorf, dass wegen der dort herrschenden Lebensverhältnisse entlang einer festgelegten Richtung bebaut wurde und dabei mittels Pfählen und einem Weidengeflecht umrandet wurde. Dieser Schutz diente den Bewohnern nicht nur als Abwehr gegen menschliche Feinde, nein, auch Wölfe - die einst noch heimisch waren - konnten hierüber vor einem Eindringen abgehalten werden. Aber auch das Verlassen aus dem " Hagen " wurde damit erschwert - insbesondere galt das für das üblicher Weise gehaltene Nutzvieh. Das es diese Hagendörfer auch außerhalb meines einstigen Heimatgebiets gab, war mir allerdings wieder entfallen.

Vielleicht waren es die damaligen Gesamtumstände während der langen Fahrt mit einem VW 1303, einer Käfer-Variante, die meine Erinnerungen an jene seltsam klingende A 7 - Abfahrt frisch hielten. Wir waren jung, lebenshungrig und naiv. Wir wollten etwas außerhalb des provinziellen Umfelds erleben. Die als spießig empfundene Enge, die zuvor durch das Elternhaus, die Schule und die Berufsausbildung vorgegeben waren,verlassen, um unseren eigenen Weg zu gehen, eigene Ziele zu erkennen und abweichende Lebensinhalte auszuprobieren. Ich war damals beim Bund, leistete meinen Kriegsdienst ab und hatte mich - nur des Geldes wegen - auf 2 Jahre verpflichtet. Nur der monatliche Besoldungsnachweis über knapp 900,-- DM machten mich nicht glücklicher. Ich war froh, dass die Bundeswehrzeit am 31. 12.1973 zu Ende war.

Immerhin mit dem Geld konnte ich mir eine Urlaub an der Mosel leisten. So fuhren wir dann - zu viert - in dem unbequemen VW 1303 an Guxhagen vorbei. Jenem kleinen Ort hinter Kassel, in Hessen, der mir in den späteren Jahren noch einige Male bei den langen Autofahrten vom Norden in den Süden und umgekehrt begegnen würde. Ob bei einer Fahrt mit meinem R4 nach Zürich, wo ich meine einstige Freundin besuchte, ob bei einer Urlaubsreise mit anderen Schulkollegen an die Costa Brava oder während der Familienbesuche bei meinem Bruder. Auf der A 7 in Richtung Frankfurt fahrend, etwa 15 Kilometer nach Kassel, musste ich eben auch an Guxhagen vorbei.

Nun, der kleine, etwas 3400 Einwohner zählende Ort, wäre mir allenfalls wegen der eigenen Erlebnisse in völlig wertfreier Erinnerung geblieben, denn auch 36 Jahre nach meinem ersten, aus eigenen Mitteln finanzierten Urlaub,hätte ich keinen Grund gesehen, diesem Ort etwas besonderes anzusehen. Ein, nach der Gebietsreform in den 70er, aus mehreren kleineren Gemeinden entstandene Verwaltungseinheit eben. Nicht mehr und auch nicht weniger. Guxhagen wäre damit - auch nach sehr vielen Jahren - für mich ein Name der Beliebigkeit geblieben - eine der unzähligen Ab - und Auffahrten zu irgendeiner Bundesautobahn. Jenem institutionalisierten, aus Beton, Metall und genormten Grün geformten Mobilitätsstrang, auf dem jeden Tag Bürgerkrieg herrscht, auf dem sich der Frust über das eigene Leben so richtig herausrasen lässt. Guxhagen ist somit ein Mosaikstein des gesamtdeutschen Gebildes, dass sich Bundesrepublik Deutschland nennt.

Als jener Staat vor 60 Jahren gegründet wurde, da lag ein zeitlich nur sehr kurzer Abstand zu dem Ende des II. Weltkriegs, zu dem Untergang des nationsozialistischen III. Reichs, dem Unrechts - Verbrecher - und Massenmörderregime, hinter den Deutschen. Die Zeit des Wiederaufbaus, des Vergessens und des Verdrängens wurde damit eingeläutet. Jene - zuvor von den Alliierten - propagierte Entnazifizierung fand nie statt. Die einstigen Faschisten saßen nach wenigen Jahren erneut in Amt und Würden. Sie waren wieder zu Funktionsträgern in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft geworden. So, wie jene einstigen Träger, Handlanger und Mitläufer des Unrechtsstaates wieder wer waren, so lebte in den Folgejahren auch der Geist des Nationalsozialismus in ihnen, ihrem Umfeld und in dem Tun und Handeln fort. Ein Ungeist, der der Welt einen weiteren Krieg beschert hatte und der auf einer Menschen verachtenden Ideologie, einem solchen Weltbild basiert, das mit einer Unzahl von Vorurteilen behaftet war.

Während die BRD, also Westdeutschland oder die alliierten Besatzungszonen sich dem Wiederaufbau verschrieb,innerhalb dessen der einzelen Mensch zunächst seine grundlegenden materiellen Bedürfnisse befriedigen wollte,setzte sich das von der nationalsozialistischen Ideologie gepflegte Obrigkeitsverhalten uneingeschränkt fort. Ein Beruf, ein akademischer Grad oder eine bestimmte Herkunft führten automatisch zu einer höheren Wertschätzung. Aus dieser sozialen Hierachie heraus entstand auch ein Bildungs - und Erziehungssystem, dass für die Kinder und Jugendlichen in den weiteren Jahren zu einem Unterwürfigkeitszwang führte. Was die Eltern, die Erwachsenen, was die repressiven Staatsorgane an sie heran trugen, das war Gesetz. Das musste umgesetzt, befolgt und danach musste sich das eigene Leben richten. Widerworte wurden als Aufmüpfigkeit bewertet, ein Verstoss gegen Normen und Regeln wurde mit drastischen Sanktionen belegt.

" Wenn Du nicht artig bist, wenn Du nicht gehorchst, wenn Du in der Schule aufpasst, dann schicken wir Dich ins Heim.", so oder so ähnlich lauteten die ständigen Drohungen. Für viele Kinder wurden sie alsbald zur bitteren Realität. Kinder, deren familiäres Umfeld nicht dem pseudo-christlichen, dem klerikalen und bürgerlichen Werten und Normen entsprachen. Kinder, die beim Erarbeiten des Wirtschaftswunders, beim Umsetzen der eigenen Lebensansprüche oder aus sonstigen egoistsichen Gründen nur störten. Der Unterdrückungsmechanismus jener Nachkriegsgesellschaft, die von den Kriegsgenerationen unkritisch gestützt wurde, erfasste dabei vorallem die Nachkommen aus proletarischem Milieu. Die Gefahr, dass vermeintliche Abweichler aus diesem sozialen Kreis in ein Heim verbracht wurden, stieg mit zunehmenden Alter der Kinder überproportional im Vergleich zu Jenen, die ein bürgerliches Elternhaus oder Umfeld nachweisen konnten.

Kinderheime enstanden deshalb, weil der Staat, die Gesellschaft, die Familien, sich mit Problemen ihrer Folgegenerationen nicht auseinandersetzen wollten. Wegsperren, das war die einfachste Methode sich jener Unbequemlichkeiten zu entledigen. Wie viele solcher Einrichtungen es einst gab, wurde mir erst seit einigen Jahren bewusst, als ich mich für dieses dunkle Kapitel aus der 60-jährigen Historie dieses Staates befasst habe. Ich selbst kannte nur eine Einrichtung in der Nähe meines Geburtsortes, die in Kleinenbremen lag und den Namen " Gotteshütte " trug. Was hier in den Jahren meiner eigenen Kindheit mit den dort einsässigen Kindern und Jugendlichen geschah, konnte, durfte und wollte ich nicht erfahren. Meine Geschwister und ich waren nicht schwer erziehbar, wir führten kein deviantes Leben, denn dazu hatten wir weder Gelegenheit, noch duldeten unsere, meine Eltern Normabweichungen.

Die " Gotteshütte " war für uns weit weg und später selbst mit dem Fahrrad nur schwer zu erreichen gewesen. Warum sollte ich, sollten wir, uns mit Gleichaltrigen treffen, sich mit ihnen beschäftigen, die nach den Aussagen im Elternhaus eh nichts taugten?

Die " Gotteshütte " in Kleinenbremen war aber nur eine von vielen Kinderheimen. Eines, wie jenes, dass auch in meinem hier beschrieben Ort Guxhagen unterhalten wurde. Kleinenbremen ist eine Dorf in der Peripherie des Weserberglandes, in der Nähe der Porta Westfalica,im ost-westfälischem Zipfel von NRW. Hier verläuft die Grenze zu Niedersachsen, Ein provinziell geprägtes Idyll, jenseits der Stadt Minden oder der Großstädte Bielefeld und Hannover. An der viel befahrenen A 2 belegen.
So, wie sich auch in ländlichen Gefilden, mittels intensiver Restaurierungen von Fachwerkhäusern so manches Kleinod im Verlaufe der vielen Jahre entwickelt hat, so haben sich auch die baulichen Bedingungen des ehemaligen Erziehungheims " Gotteshütte " erheblich verändert. Die Einrichtung nennt sich nun " Jugendwerkhof Porta Westfalica ".
Auch die dort praktizierte Pädagogik ist längst eine andere, als zu Zeiten der Aufbaujahre der 50er und 60er.

Nicht nur aus reiner Neugierde recherchierte ich deshalb im Internet unter den Suchbegriffen " Gotteshütte " und " Erziehungsheim ". Und: siehe da, ich wurde sehr schnell fündig.

http://www.imheim.de/kinderheim-porta-westfalica-kleinenbremen-gotteshuette.html#

Das sich einstige Zögling, Heimkinder und Betroffene seit einigen Jahren zu ihren einstigen Aufenthalt in einem Fürsorgeheim etc. öffentlich geäußert haben, dass ist mir nicht neu. Zu der aktuellen Entwicklung und dem Diskussionsstand habe ich mich selbst mit Beiträgen eingebracht.



Leider hat es die derzeitige und zuständige Familieministerin von der Leyen nicht für nötig befunden, sich mit der Vielzahl der Anliegen jener - einst - diskriminierten Bevölkerungsgruppe anzunehmen und " keinen Handlungsbedarf " erkannt. So? Von der Leyen ist aus dem eigenen familiären Umfeld heraus christlich erzogen worden. Ihr Vater - der einstige niedersächsiche Ministerpräsident Ernst Albrecht - ist CDU-Mitglied. Er war als Manager bei der " Weltfirma " Bahlsen in Hannover tätig. Er kennt die massiven sozialen Verwerfungen längst und das nicht erst seit seinem Amtsantritt in den 70er Jahren. Wenn er seine Tochter Ursula, die jetzige Familienministerin, tatsächlich christliche Werte und Normen anerzogen haben sollte, so waren es offensichtlich die falschen Ansätze.

Hätte von der Leyen sich intensiver mit dem gesellschaftlichen Problem der Heimkinder auseinander gesetzt, so wäre ihre abkanzelnde Stellungnahme zu den Forderungen jener einst Diskriminierten nicht erfolgt. Von der Leyen täte mehr als nur gut daran, sich mit dieser dunklen Seite aus den jener 60 Jahre BRD-Historie zu befassen und nicht nur die lobhudelnden Berichte zu lesen.
Was sich unter anderem aus dem exzellent geschrieben und bedrückenden Buch von Peter Wensierski " Schläge im Namen des Herrn " ergibt, ist ein beschämendes Stück Zeitgeschichte, eine schallende Ohrfeige für unsere Demokratie und ein kräftiger Tritt in den Allerwertesten für die damalige Adenauer-Gesellschaft.

In den Jahren des klerikal-orientierten, westlich geprägten und auf Unterwürfigkeit fixierten Wirtschaftswunderlandes hatten Abweichler keine Chance, Kritiker zu den real existierenden Mißständen fanden kein Gehör und Menschrechtler, die auf jene eklatante Diskrepanz zwischen Verfassungsanspruch und Verfassungswirklichkeit hinwiesen, wurden als " Fünfte Kolonne Moskaus " diffamiert. Dieses - von Ulrike Meinhof später krisitisierte - Unterdrückungssystem wurde auch in Guxhagen praktiziert. Jenem Ort an der Autobahn A 7, im heutigen hessischen Schwalm-Eder-Kreis, dass bereits in der nationalsozialistischen Zeit eine Euthanasie-Einrichtung vorwies. Jene staatliche Mörderanstalt in der Menschen, die nach faschistischer Begriffsdefinition " rassisch minderwertig " waren. An den medinzinische Experimente vollzogen wurden und die sukzessive ermordet wurden. Um sich der vielen Leichname zu entledigen, ließen die Verantwortlichen sie einfach in einem Massengrab verscharren. Wie ein Stück Vieh, dass eben auch " minderwertig " sein konnte. Da die Mörder von einst kaum zur Rechenschaft gezogen wurden, blieben auch die dafür aufgebauten Strukturen weitesgehend erhalten.

Im systematischen Zusammenspiel von Legislative, Exekutive und Judikative fanden somit statt der einst " rassisch minderwertigen " Kinder und Jugendlichen jene Zöglinge aus den ersten 2 Jahrzehnten der BRD ihre neue " Heimat " in dem Heim. Das einstige Kloster " Breitenau " hatte seit 1903 einige Funktionen zu erfüllen. Zunächst war die Einrichtung - als staatliche " Korrektionsanstalt " bereits geführt - zur Aufnahme von Abweichlern gedacht. Später, nämlich ab 1927 nannte sie sich " Landesarbeitsanstalt und Landesfürsorgeheim Breitenau ". In den Jahren der NS-Zeit war Breitenau als "Arbeitserziehungslager " eingerichtet worden, in dem neben den Zöglingen auch durch die Gestapo inhaftierte Menschen vegetieren mussten. Zu Spitzenzeiten hatte die Anstalt etwa 8.300 Insassen.

Nach 1949 erfolgte die Umbenennung in " Landesfürsorgeheim Fuldatal ", das auch unter " Mädchenheim Fuldatal " oder synonym hierfür unter " Mädchenheim Guxhagen " bekannt war. In dem Buch von Peter Wensierski ( S. 178 ff ) schildert er neben den historischen Ereignissen auch jene Zeit ab 1949, als das Ex - Kloster Breitenau eben in jene pseudo-christlichen Verwahranstalt umfunktioniert wurde, innerhalb derer die Menschnrechte mit Füßen - nicht mehr mit Stiefeln - getreten und die dort einsässigen Mädchen zu seelisch verkrüppelten Erwachsenen heran gezogen wurden. Die faschistoiden Umgangsformen blieben bis in die 70er Jahre erhalten. Neben einem repressiven Regiment der Erzieherinnen mussten die Mädchen und jungen Frauen die damals üblichen Zwangsarbeiten leisten. Ohne adäquate Entlohnung, ohne spätere rentenrechtliche Anerkennung und ohne eine Möglichkeit eine soziale und berufliche Vorsorge für die Zeit nach der Volljährigkeit ( das war damals das 21. Lebensjahr ) treffen zu können.

Erst die im Zuge der 68er - Unruhen aufkommende öffentliche Berichterstattung über die inhumanen Zustände in jenen Heimen sorgte für eine langsame Veränderung. Gegen die diffamierende Politik der CDU/CSU verfolgte die sozial-liberale Koaltion unter Willy Brandt und Walter Scheel eine auf Reformen in diesen Bereichen fixierte Politik. Die verbrecherischen Erziehungsanstalten wurden zum Teil geschlossen, zum Teil mit einer anderen Trägerschaft und qualifiziertem Personal versehen.
Was geblieben ist, sind jene unauslöschbaren Erinnerungen an die post-faschistoide Zeit des Heimaufenthalts, an die ungezählten Misshandlungen, Erniedrigungen und Demütigungen durch den Staat, die Kirchen und die Gesellschaft.
Oder, um es mit den Worten des nationalsozialistischen Ex-Marinerichters, Ex-CDU-Mitglieds und Ex- Minsiterpräsidenten des Bundeslandes Baden-Württemberg zu formulieren:

" Was gestern Recht war, kann heute nicht Unrecht sein!"

Doch, Herr Filbinger, es muss heute Unrecht sein und es muss denjenigen gnadenlos um die Ohren geschlagen werden, die gestern dafür verantwortlich waren. Denn: Guxhagen war überall

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