" W., hasté mal 100 Mark? "



Vor einigen Tagen habe ich den Gefrierschrank gründlich gesäubert und dabei einige eingefrorene Suppen neu sortiert. Gestern nun war der Kühlschrank an der Reihe. Weil ich es einst im elterlichen Haushalt so beigebracht bekam, gehören solche Arbeiten zur Routine. Die verstorbene Mutter achtete penibel darauf, dass das Einfamilienhaus, das Grundstück, aber vor allem der eigne Haushalt " ordentlich " blieben. Ordentlich in ihrem Sinne war, dass eben kein Schmutz sichtbar wurde. Eigentlich war dieser eherne Grundsatz ein nahezu sinnloses Unterfangen im Kampf gegen die all täglichen Verschmutzungen durch einen auf dem Bau arbeitenden Ehemann und drei Kindern, die mit zunehmenden Alter zwar zur Selbständigkeit heran gezogen wurden, aber auch gerne als Erfüllungsgehilfen im zu funktionierenden Haushalt und dem übrigen Lebensumfeld heran gezogen werden mussten. Anderenfalls war die Kleinfirma fünfköpfige Familie gar nicht zu managen. Denn unsere Mutter war seit der Eheschließung im Mai 1952 ständig berufstätig.

Zunächst arbeitete sie als Haushaltshilfe bei einer Offiziersfamilie in Bad Eilsen. Der Soldat der Britischen Armee war hier stationiert und wurde später nach Minden versetzt. Er bewohnte eine Villa, die sich " An der Promenade " befand. Hier lernte unsere Mutter die ersten englischen Wörter, die sie uns irgendwann später beibrachte. Dann war sie in dem Lebensmittelgeschäft, das sich einige Meter vor jener einstigen Offiziers - Villa befand als Verkaufshilfe beschäftigt. Dieses Geschäft mit dem hoch trabenden Namen " Feinkost H. H. Wienecke " befand sich in einem Flachbau, der einst im billigen Schnellbauverfahren hochgezogen wurde. Davor gab es ein Schreibwaren - und Zeitungsgeschäft, in dem die Kurgäste auch allerlei Tinnef , Souvenirs und Rauchwaren kaufen konnten. Vor diesem Laden befand sich ein Cafe´mit Außenbereich, später ein Damen - und Herren - Modengeschäft.

Mutter arbeitete aber bei H.H. Wienecke, weil sie einst nichts lernen durfte und demnach nichts gelernt hatte, eben als Verkaufshilfe. Der Geschäftsinhaber aber, er besaß eine kaufmännische Ausbildung. Er war also Kaufmann, wenn auch ein sehr schlechter. Oder, besser ausgedrückt, er hatte die falsche Frau geheiratet. Denn die gab das Geld aus, was er in seinem Laden umgesetzt hatte. Und dieses mit beiden Händen. Frau Wieneck war ein schlanke, dunkelhaarige Frau, die nach außen sehr resolut auftrat. Das Ehepaar Wienecke hatte zwei Kinder. Zwei Töchter, die eine hieß Cornelia und war in meinem Alter  bzw. sie ging in meine Klasse ging. Cornelia war - so wie ich auch - keine besonders gute Schülerin. Sie schrieb eher Vieren, oft aber Fünfen und auch Sechsen. Ihr Versetzung war deshalb ständig gefährdet.

Die jüngere Tochter hieß - nach meiner Erinnerung - Petra. Sie war hübscher als ihre Schwester Cornelia. Sie besuchte ebenfalls die Volksschule in Heeßen / Bad Eilsen. 

Ihr Vater jedenfalls war kein guter Rechner. Oder besser: Sein " Feinkostgeschäft " in Bad Eilsen lief nicht gut. Das lag daran, dass - außer den Kurgästen - die meisten Einheimischen eher wenig Geld hatten. Zudem gab es weitere Lebensmittelläden. So den " Spar " - Laden der Gebrüder Beißner, den " A + O " - Laden von Günther Viebranz an der Bahnhofstraße, das " Edeka " - Geschäft von Günter Schramke in Heeßen. Diese Läden waren größer und setzten mehr um.  

Als eines Tages kaum noch Ware im Geschäft von Wienecke lag, stellte unsere Mutter dem Inhaber bohrende Fragen nachdem Warum. Hans Heinrich suchte nach Ausflüchten. Dann bat er unsere Mutter, ihm mal eben 100 Mark zu geben, damit er schnell nach Minden zum Einkaufen fahren könne. Nun, " Muddern " war immer flüssig, denn sie arbeitete Samstag - und Sonntagabend ab 18.00 Uhr bzw. 12.00 Uhr als Bedienung in den " Jägerstuben " am Kurpark in Bad Eilsen. Hier erhielt sie regelmäßig Trinkgeld von den spätestens bis 22.00 besoffenen Kurgästen. Viele von denen arbeiteten bei VW in Hannover, Wolfsburg oder Braunschweig und erhielten alle drei Jahre eine Kur " verschrieben ". VW - Arbeiter verdienten schon damals überdurchschnittlich gut. Sie konnten somit mehr Geld ausgeben als andere Arbeitnehmer. Weil das so war, hauten sie mit steigendem Alkoholpegel mächtig auf den Schlamm. Dazu gehörte auch, dass sie an die Bedienungen in den " Jägerstuben " und anderswo eben üppiges Trinkgeld springen ließen.

Als dann Hans Heinrich Wienecke unsere Mutter wegen Geld anpumpte, hatte sie dieses noch nicht zur Sparkasse gebracht und auf ihr Konto eingezahlt. Sie wusste aber, was in der für Bedienungen typischen Geldbörse an Geld war und übergab diese dem klammen Ladeninhaber. Der nahm es an sich und fuhr in Richtung Minden zum Einkaufen. Nach zirka drei Stunden und rechtzeitig vor der Mittagszeit war er zurück. Seinen PKW hatte er mit Kisten und Kartons bis zum Dach voll gestopft. Hans Heinrich war glücklich. Das Montagsgeschäft war gerettet. 

Aus der Bitte " W. hasté mal 100 Mark ", wurden lock das Dreifache. " Muddern " indes wusste, das sie spätestens ab Mittwoch ihren Kredit zurück erhielt. Einige Zeit später erhielt sie eine Festeinstellung bei der LVA in Bad Eilsen. Sie gab ihre beiden Jobs auf. So, wie Hans Heinrich Wienecke seinen Feinkostladen, denn der brachte nichts mehr ein.


THE KINKS  -  Days  -  1968:




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