Der Himmelsaufstieg
Der Pfingstsonntag des Jahres 2012 sollte eigentlich der Erholung dienen, dennoch entschloss ich mich, in einem Anflug von Wahnsinn, den bereits mit leicht rot gefärbten Früchten stehenden Kirschbaum zu besteigen. Nachdem die 6 m lange Aluleiter ausgezogen war, erklomm ich - sommerlich leicht bekleidet - den uralten Baum, um beinahe in der Spitze der Krone angekommen, meine zarten Finger nach den begehrten Köstlichkeiten auszustrecken. Rein vorsorglich hatte ich den Plasteiemer der Enkelkinder als Behältnis für die Kirschen auserwählt, denn - nachdem unsere gefiederten Freunde in schöner Regelmäßigkeit den Kirschbaum angeflogen hatten, um dort zu wüten - war mein Optimismus, was die Beute angeht, eher gedämpft. Tatsächlich waren jedoch meine Bedenken eher unbegründet, weil sich der Reifegrad der Rotfrüchte eher als ausbaufähig zeigte und die Anzahl der Früchte doch noch zufrieden stellend war.
Nach einer halben Stunde war das Sandeimerchen voll und meine Mission für heute beendet. Erleichtert stieg ich die Aluleiter hinab und betrat wieder festen Boden. Solche Kletteraktionen sind nicht unbedingt das, was ein Mann reiferen Alters sich ständig antun muss, zumal die körperliche Fitness degressiv mit der Jahreszahl abnimmt und das dazu führt, dass bei jedem Schritt in die luftige Höhen des Baumes, zuvor dessen Gefährlichkeit gut abgewogen sein sollte. Da sich der Nachbar ebenfalls als Kirschesser geoutet hatte, teilte ich die vorläufige Ernte brüderlich und füllte ihm eine Plasteschale voll mit Kirschen.
Immerhin hatte der Baumaufstieg auch etwas mit aktiven Sport gemein, denn sämtliche Gliedmaßen und Muskel werden dabei beansprucht. So setzte ich mich denn auch ruhigen Gewissens an den Mittagstisch und verzehrte dort eine Portion Beelitzer Spargel; eine Köstlichkeit, deren Preis sich noch weit unter dem der Kirschen bewegt. So hatte ich für den Hausverzehr die erste, wenn auch nicht zuckersüße Ernte eingefahren und den aus luftigen Höhen in das Geäst des Baumes einfallenden, gefiederten Konkurrenten gezeigt, wer der wahre Herr der Lüfte ist.
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