Schulschluss oder: " Taatjaanaaa, was macht´ n ihr´n da´n noch? "
Noch 20 Tage bis zum Heiligen Abend. Wie die Zeit rast! Davor liegt allerdings der Geburtstag der ältesten Enkeltochter. Und damit verbunden, das Einpacken der Geschenke.
Das bedeutet dann: Geschenkpapier besorgen. Nebenbei war noch die Grundversorgung der drei Vierbeiner sicherzustellen.
So stampfte ich in neunen, Winterwetter geeigneten Halbschuhen, dafür mit einem nicht bemerkten Riesenloch am Mantelrückenteil ( peinlich, peinlich,peinlich! ) , gen " Kesselsdorfer Straße " los. Frischluft macht frei! Und warum den fahrenden Untersatz dann noch bemühen?
So trieb es mich flotten Schrittes in Richtung " Kesselsdorfer Straße ". Auf dem Weg dort hin kamen mir Schulkinder entgegen. Aha, der Unterrichtstag war also für diese Schüler beendet. Und weil Schulschluss war, trödelten einige aus dem Pulk herum. Mit gezücktem Handy fummelten und tippten sie auf dessen Tastatur herum. Simsen oder Chatten? Das konnte ich nicht erkennen, als ich an ihnen vorbei ging. Einige aus der Gruppe der Schüler, deren Alter ich mit 10 oder 11 Jahren einschätzte, blieben mitten auf dem Fußweg stehen und starrten auf das Display ihres Handys.
Mir kamen Erinnerungen an meine eigne Schulzeit. Vor einigen Dekaden gab es noch keine Mobiltelefone. Meine Eltern besaßen nicht einmal einen Festnetzanschluss. Zu teuer. Dieser war nur für Privilegierte, für Haushalte mit Geld, vorgesehen. Dafür gab es in dem kleinen Ort Heeßen, in Bad Eilsen oder auch Ahnsen, einige der gelben Telefonzellen. Diese waren schon allein wegen des Aufbaus kaum zu übersehen.
Wenn wir aus der Volksschule in Heeßen kamen, wählten wir für den Heimweg immer die kürzeste Strecke aus. Die brachte uns über einen Trampelpfad entlang von Wiesen, zur Auebrücke. Von dort ging es an einer bewachsenen Fläche , die wir " Insel " nannten, steil bergauf. Der Eilser Friedhof, rechter Hand gelegen, wurde passiert. Dann standen wir nach einigen Hundert Metern vor dem provisorischen Tor, das uns den Zutritt zur " Bückeburger Straße " ermöglichte. Obwohl der Verkehrs damals verschwindend geringe Ausmaße hatte, sahen wir uns, wie wir es gelernt hatten, nach rechts und links um und liefen über die Straße.
Nach und nach verabschiedeten sich die Mitschüler aus der Nachbarschaft, die am " Interessentenweg ", der " Bückeburger Straße " oder am Anfang der " Feldstraße " wohnten. " Tschüss, bis Morgen! " oder " Tschüss, bis nachher! ", so hieß es, wenn wir uns zum Spielen am Nachmittag verabredet hatten.
Der Schulweg war morgens und auch nach Schulschluss ein Ritual. Es wurde gequasselt, was der Mund her gab. Die Themen waren vielfältig: Schule war immer dabei, Freunde auch, Spielen sowieso. Hausaufgaben, Klassenarbeiten, Noten. Aber vor allem auch die blöden Lehrer von damals. Sie erbrachten immer neuen Gesprächsstoff. Wer von welchem Lehrer ein Ohrfeige, eine Backpfeife oder " Eine geschallert " bekommen hatte, welcher Lehrer sonstige Strafen ausgesprochen hatte. Nachsitzen, Strafarbeiten, zum Schulleiter usw. Dies alles wurde während des Schulwegs ausgiebig besprochen.
Ab und an gab es dann auch eine handfeste Prügelei, es wurde gekämpft, gerungen, bis der Kontrahent am Boden lag und der Stärke sich triumphierend auf dessen Oberarme setzte, um dort das beliebte " Mucki - Reiten " zu zelebrieren. Manchmal lauerten uns die Schüler aus den Häusern unten im Heeßer Dorf oder die Rüpel aus Bad Eilsen auf, um uns " zu verkloppen ". Wir wussten das aber schon vorher über den so genannten " Busch - Funk ". Einige, uns wohl gesonnene Mitschüler hatten es uns in der Großen Pause, die von 9.30 Uhr bis 9. 50 Uhr ging, verraten.
Dann gingen wir den Umweg. Über die Schulstraße. Rechts, an den riesigen drei Pappeln vorbei, die vor dem Altbau standen, an einigen Wiesen und Feldern entlang, bis zur Kreuzung der Schulstraße mit der Straße " Im Wiesengrund ", die dann über die " Bückeburger Straße " und nach Hause führte. Es war ein großer Umweg, aber es war der vorgeschrieben, der reguläre Schulweg. Um zu verhindern, dass uns die Rabauken aus Eilsen einholen konnten, liefen wir die Schulstraße entlang. Für die an der Auebrücke wartenden Rüpel, die Bromund, Kinzorra, Melching oder ähnlich hießen, war es dann zu weit, um uns einholen zu können.
Schimpfend, drohend und fluchend drehte die Bande ab und verschwand wieder am Aueweg in Rchtung Bad Eilsen oder über den Schulhof nach Heeßen.
Den Umweg mussten wir aber auch gehen, wenn die Aue - oft im Frühjahr, nach der Schneeschmelze - Hochwasser führte. Dann waren die Auewege und sogar die Auebrücke überflutet. Dabei sahen wir dann, wenn wir gemächlich den Umweg über die " Große Auebrücke " gingen, links von der Straßenkreuzung " Am Wiesengrund ", einige Meter vor dem Laden des Lebensmittelhändlers Schramke, den Aufbau der gelben Telefonzelle. Die wir dann und wann in einem leicht ehrfürchtigem Tonfall als die Telefonzelle bei Schramke nannten. Telefonieren konnte von uns Schüler damals keiner. Wir wussten nicht einmal, wie dieses technische Wunderwerk überhaupt funktionierte.
Telefonzellen hatten für uns damals etwas majestätisches, so, wie Litfaßsäulen und die Kioske, an denen wir im Sommer unser Eis kaufen konnten, weil wir in den ersten Schuljahren dort kaum über das Verkaufsbrett kamen, um unsere 2 bis 5 Groschen hinzulegen. Telefonzellen der Deutsche Post, der Bundespost, die von Bundespostminister im fern gelegenen Bonn, der Bundeshauptstadt zu BRD - Zeiten, geführt wurde, kamen denn auch nur in unserem Spielumfeld oder der Fantasie vor. Später kannten wir sie aus dem Fernsehen. Dort sahen Fernsprechzellen, wie sie im Fachjargon von einst richtig hießen, oft völlig anders aus. In England waren sie rot, in Amerika grau, silber - grau, in den Niederlanden hell - blau.
Inzwischen gibt sie dort kaum noch. Die Telekom will die abgebauten Zellen verramschen, in den USA sollen die Einrichtungen zu WLan - Hotspots umgerüstet werden und in den Niederlanden hat der Betreiber sich ebenfalls von den nostalgischen Häuschen verabschiedet.
Im Zuge der Individualisierung der Kommunikationsmöglichkeiten haben diese Angebote keine Zukunft mehr. Wer telefoniert schon dort?
Verschwunden sind auch die vielen Kioske, vor allem jene, die wie über dimensionierte Pilze mit rotem Hut aussahen, die Litfaß - Säulen und die Kinder, die in einem Pulk morgens zur Schule gehen und sich nach Schulschluss wieder gemeinsam auf den Heimweg machen.
Wer mit dem Handy, iPhone oder Smartphone herum daddelt, redet nicht mehr mit - und übereinander, der kommuniziert, simst, chattet. Der wird von Mama bis vor den Schuleingang kutschiert, oft sogar dort wieder abgeholt. Manche Einzelkinder haben indes noch Freunde mit denen sie die schulfreie Zeit verbringen. Viele längst nicht mehr. Da sind die Unterhaltungsmedien der Freundersatz.
So haben sich auch die Umfelder der Schulwege völlig verändert. In ländlichen Bereichen müssen Schüler eine mehr als halbstündige Busfahrt ertragen, um zur Schule zu gelangen, weil es im Ort keine mehr gibt. Sie müssen auf den Heimweg auf den Straßenverkehr achten, sich vor dem bösen Autofahrer und nicht den bösen Mann in Acht nehmen. Und, damit die Überwachung funktioniert, wird ein Mobiltelefon oder so etwas ähnliches angeschafft. Das mag ein Stückchen Sicherheit suggerieren. Nur, wenn ich mich mitten auf den Fußweg stelle und mit diesem Ding spiele, kann ich die Augen nicht auf mein Umfeld richten.
Dann wuchtete sich ein schon erheblich übergewichtiger Mitschüler auf die daddelnde Truppe der Schüler heran. Schnaubend legte er die letzten Meter nach dorthin zurück und brüllte schon weit vorher: " Taatjaanaaa, was macht´n ihr ´n da ´n noch? "
" Was ist das für ein Deutsch? ", dachte ich bei mir. Der kleine Dicke hatte wohl kein Handy bekommen und fühlte sich ausgegrenzt. Neugierig fragte er seine Mitschülerin, warum diese das Handy benutzt. Bei der Tatjana angekommen, schaute er interessiert auf das Display ihres elektronischen Wunderwerks. " Die daddelt doch bestimmt? Oder sie simst? Kann auch sein, dass sie chattet? ", waren meine Gedanken.
Die Antwort auf seine Frage gab Tatjana nicht. Der pummelige Mitschüler glotzte dennoch angestrengt auf Tatjana´s Mobiltelefon.
" Ich spiel´n mit ´n Handy herum ´n, wieso ´n!", hätte die Antwort lauten können. Das sind also die Heimwege der Schüler in 2014 nach Schulschluss?
Wie öde!
Alice Cooper " School´s Out " , 20. Mai 1972:
" School´s Out Forever ? "
Nicht ganz - das ganze Leben ist ein einziger Lernprozess.
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