Lothar G. aus Wuppertal. Einst wohnhaft Leobener Straße 4, 6/10 in 2800 Bremen, und die fliegenden Essenteller.
Als ich vor mehr als 36 Jahren, nämlich ab September 1978 mein BWL - Studium in Bremen fort setzte, waren bezahlbare Unterkünfte für Studenten Mangelware. So,wie im Jahr 2015 auch. Ich bewarb mich also für einen Wohnheimplatz über das einstige " Sozialwerk " der Universität Bremen und wartete. Dazwischen hauste ich bei einer typischen Bremer Familie in der Oesselmannstraße 4 und danach in einem 14 Quadratmeter - Loch Am Dobben 81 in Bremen.
Irgendwann im August 1979 erhielt ich einen Wohnheimplatz. Im Mensawohnheim, direkt an der Universität, bot das " Sozialwerk " mir ein Zimmer an. Ich griff sofort zu. Günstiger als 144 DM für 18, 5 Quadratmeter gab es nirgendwo in der Freie und Hansestadt Bremen eine " Bude ".
So zog ich irgendwann Ende August in dem Mensawohnheim ein.
In dem Betonklotz herrschte Anonymität und ein Überschuss an männlichen, ausländischen Bewohnern oder solchen mit Migrationshintergrund. Irgendwann im Sommer des Folgejahres lernte ich Lothar G. kennen.
Er studierte zu diesem Zeitpunkt Psychologie und wirkte auf mich ein wenig abwesend.
Lothar G. war gebürtiger Wuppertaler. Seine gut bürgerliches Elternhaus stand einst in Wuppertal - Barmen, einem eher besseren Stadtteil der Großstadt im bergischen Land. Lothar G.´s Vater war längst verstorben. Er übte einst den Beruf des Steuerberaters aus. Deswegen hatte er wohl auch wenig - zu wenig - Zeit für die Familie und Lothar sowie dessen ältere Schwester.
Über die Mitarbeit im einstigen Mieterrat des Mensa - Wohnheims lernten wir uns alsbald näher kennen. Ein Jahr später entwickelte sich so etwas, wie eine Freundschaft. Lothar und ich besuchten uns regelmäßig. Wir sahen zusammen Fußballspiele im Fernsehen, diskutierten natürlich über Politik und tauschten Musik aus. Lothar war Fan der Reggae - und Folklore - Szene. Mit meiner Hardrock - Musik konnte er wenig anfangen. Irgendwann im Sommer des Jahres 1982 saßen wir stundenlang auf dem normierten Klappbett in seiner Bude im sechsten Stock, sahen die TV - Übertragung der WM 1982 in Spanien und kloppten nebenbei Karten.
Als das " Jahrhundertspiel " zwischen Westdeutschland und Frankreich beendet war. Die bundesdeutschen Kicker, glücklich in das Finale gegen Italien einzogen, dass sie dann - völlig verdient - mit 1 : 3 verloren, hatte sich unser Verhältnis ein wenig abgekühlt.
Lothar hielt aufgrund seiner Liaison mit einer Französin zu dem " Le Bleus ". Er war deshalb sauer und war einige Tage nicht mehr zu sehen.
Lothar trauerte somit. Und während er der Niederlage gegen die bundesdeutschen Kicker hinterher weinte, zog er sich zurück. Irgendwann hörte ich, dass er für einige Tage zu seiner Freundin nach Bordeaux gereist war. Als ich einige Wochen später von meiner Semester - Maloche in der Glasfabrik in Obernkirchen zurück kehrte, war Lothar immer noch nicht da. Lothar weilte noch in Frankreich, bei seiner Freundin Marie - Pierre.
Es vergingen einige Tage, ich fuhr zwischenzeitlich zu meinen Eltern, als ich nach meiner Wiederankunft in Bremen von Mitbewohnern hörte, dass Lothar nun zurück sei. Ein Mitbewohner hatte ihn dabei gesehen, als er in den frühen Morgenstunden eine Vielzahl von weißen Plastiktabletts, die er massenhaft auf seinem winzigen Balkon gehortet hatte, hinunter war. Die Tabletts zerschellten auf dem Dach des Vorbaus zum Wohnheim. Durch den lauten Aufprall wurden einige Mitbewohner wach. Sie wunderten sich, wer diesen Lärm verursacht und fanden bald heraus, dass von einem Balkon Gegenstände geworfen werden, die sich später als Tabletts aus der Universitätsmensa entpuppten.
Diese Tabletts war Lothar G. herunter. Ein genervter Bewohner brüllte deshalb so etwas, wie " Hör´auf damit!" und schlug die Balkontür zu. Lothar G. war enttarnt. Und weil er als Ruhestörer dingfest gemacht werden konnte, viele Bewohner wussten, dass wir uns häufig trafen, erzählten diese mir von dem Ereignis. Ich machte mir Sorgen um Lothar G. Nicht deshalb, weil er eine Unzahl von Mensa - Tabletts herunter geworfen hatte, sondern darum, dass er damit signalisieren wollte, dass es ihm nicht besonders gut ging.
Ich besuchte Lothar G, einige Tage später in seinem Zimmer mit der Nummer 6 / 10. Lothar machte auf mein Klopfen hin auf. Er sah zerlumpt aus. Eher wie ein Penner,denn ein Student, der demnächst der Juristerei frönen wollte. Nein, meinem Lothar ging es wirklich nicht gut.
Wir tranken Tee und unterhielten uns. Über seinen Frankreich - Aufenthalt, über Marie - Pierre und dann über die Tablett - Wegwerf - Aktion vor einigen Tagen. Icch sah auf seinen Balkon, der natürlich genauso winzig war wie meiner. Die Mensa - Tabletts waren verschwunden. Vor einiger Zeit hatte Lothar sie aufeinander gestapelt dort ablegt, weil er zu faul war oder vielleicht auch schon vergesslich, sie bei jedem Gang in die Mensa mitzunehmen. Stattdessen ließ er sie - nachdem er den fürchterlichen Fraß verzehrt hatte - auf seinem kleinen Balkon liegen.
Lothar, der Tablettsammler!
Lothar trank gerne Bier. Als gebürtiger NRWler ist dieses damals nichts außergewöhnliches gewesen. Lothar trank aber mitunter zu viel Gerstensaft. Wenn er zuviel Bier getrunken hatte, kam der Lebensfrust über ihn. Der frühe Tod seines schon damals viel zu alten Vaters, den Steuerberater aus Wuppertal, der nie Zeit für ihn hatte, das miese Verhältnis zu seiner älteren Schwester und der Stress mit Marie - Pierre, der Französin aus Bordeaux.
Dann sprudelte es aus ihm heraus. Ja, bei dem Besuch in Frooonkraisch hatte er sich mit Marie - Pierre häufig gestritten. Ja, sie wollte endlich eine feste Beziehung, sprich. Heirat. Und, nein, er hatte dazu keine Meinung. Es gab Diskussionen. Lothar reiste ab. Marie - Pierre hatte Schluss gemacht. Keine Liebe mehr. Aus! Vorbei!
Lothar war geknickt und trank Gerstensaft. Zu viel davon. Im trunkenen Zustand packte ihn die Wut. Er nahm die Tabletts und ließ sie aus dem 6. Stock mehr als 15 Meter in die Tiefe fliegen. Ja, er schleuderte voller Wut die Mensa - Tabletts von dem Balkon. Die schwirrten durch die Luft, fielen in die Tiefe und zerbarsten auf dem festen Dach des Vorbaus zu dem Beton - Lulatsch an der Universität Bremen.
Lothar G., der Zerstörer von staatlichem Eigentum. Lothar G., der Wüterich. Lothar G., der frustrierte Biertrinker, der verlassene Freund der Französin Marie - Pierre.
Wir schreiben den Spätsommer 1982. Die BRD hatte das WM - Finale gegen Italien in Spanien sang - und klanglos mit 1: 3 verloren. Lothar G. war Tabletts von dem Balkon seines 18, 5 Quadratmeter - Lochs im Mensa - Wohnheim, Leobener Straße 4, Appartement 6/10 in 2800 Bremen.
Lothar, der Zerstörer?
Dabei hörte er immer so seichte Musik. Tucker Zimmerman zum Beispiel.
Härte Schale, weicher Kern? Davon gibt es heute noch viele Menschen. Lothar G. indes ist aus meinem Lebensumfeld entschwunden. Wer weiß, wohin? Vielleicht schaut er mir längst beim Bloggen von ganz Oben zu.
In diesem Sinne: " Gut´s Nächtle " von und mit: " Earthling " und "
Tucker Zimmerman und " Amusement Park " ( 1972 ):
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