Die Krähen schrei´n´und ziehen über die Stadt - Teil III
" Die Krähen schrei'n
Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt:
Bald wird es schnei'n –
Wohl dem, der jetzt noch – Heimat hat! "
So dichtete Friedrich Nietzsche 1887 in seinem Werk " Vereinsamt ". Auch wenn der bislang milde November, dem Europäer einen anderen Eindruck vermitteln möchte: der nächste Winter kommt bestimmt. Bereits im Oktober zogen die Kraniche in ihrer typischen V - Formation in Richtung Süden. Mit den trompetenden Rufen bewegte sich die Schar über Dresden hinweg. Ein sicheres Zeichen dafür, dass es kälter wird. Die ungemütlichen beiden Jahreszeiten beginnen.
Aber auch die Krähen sind wieder da. Laut krächzend, schwirren sie Tag für Tag, aus verschiedenen Himmelsrichtungen kommend, über das Grundstück hinweg. Beinahe rastlos sucht sich die große Vogelschar einen neuen Platz, bevor die Dämmerung herein bricht. Der heftige Novemberwind treibt die schwarzen gefiederten Freunde durch die Luft. Es werden immer weniger, bis nur noch ein paar Nachzügler zu sehen sind.
Am nächsten Tag, den Sonntag, sind keine Vögel zu sehen. Draußen herrscht Herbstwetter. Ein Sturm peitscht die Äste von links nach rechts. An dem Dachabschluss vibriert eine lose Blechkante und gibt ein helles Geräusch ab. Der Wind heult ab und zu auf. Die Böen pusten die Laubreste vom Rasen. Die Blätter bleiben irgendwo auf dem Beeten und im Bambus hängen. Dort werden sie verrotten.
Ein ungemütlicher Sonntag im November 2015. Wir unterhalten uns über den gestorbenen Cousin J. L. " George ", wie er in der Dresdner Szene genannt wurde. Das ist sehr lange her. Ein Leben voller Extreme. Erst der Tod des Vaters, an dem er sehr hing. Dann kam kurz danach die " Wende ". Sein Leben wurde neu geordnet.
Vielleicht hatte er bereits zu diesem Zeitpunkt die Weichen falsch gestellt. Statt einen beruflich fundierten Neuanfang vorzunehmen, stieg er in das Veranstaltungsgewerbe ein.
Die falschen Freunde, Freundinnen, falsche familiäre Entscheidungen. Das Leben hatte es ihm danach nicht leicht gemacht. Hinzu kam die Sucht. Alkohol und Nikotin? Wer sich da nicht im Griff hat, der greift nach diesem, den letzten Strohhalm, um aus dem Sumpf, in den er immer tiefer versinkt, herauszukommen. Die Jahre verfliegen, so schnell, wie die Krähen über die sächsische Landeshauptstadt fliegen.
Aus dem Wendejahr wird das Vor - Millenniumsjahr, aus den 2000ern, die 2010er. Der soziale Abstieg scheint unaufhaltsam. Die Mutter bezahlt längst die Miete für die winzige Ein - Raum - Wohnung in Dresden - Gorbitz. Dort, wo eigentlich das HARTZ IV - Klientel lebt, wo die Polizei sich an manchen Abenden und Nächten, die Türklinke in die Hand gibt, wo Suff und Kleinkriminalität, Schwarzarbeit und große Schlorren, die zur Aufwertung des nieder gemachten Egos gefahren werden müssen, das Bild der Straßen pflegt.
Es hat ihn hierhin verschlagen. Keine Odyssee von Ort zu Ort, von Stadt zu Stadt, von Bundesland zu Bundesland, sondern nur von Stadtteil zu Stadtteil. Aus einem gemischt - bürgerlichen Umfeld, in den sozialen Brennpunkt. Er vegetiert die letzten Jahre vor seinem jähem Tod nur dahin. Sein Zuhause, sind wahrscheinlich die Pinten, Kneipen, die Absteigen, der Randsatz der Dresdner Gastronomie.
Ein Leben, ohne Sinn? Ein sinnloses Sein? Ein zielloses Dasein? Das Leben endete nach 48 Jahren, ohne eine Spur für die Nachwelt zu hinterlassen. Einfach im Nichts. Wie gekommen, so gegangen. Der Wanderer zwischen den Parallelwelten der Konsumgesellschaft stand - nach dem ihn gewisse, günstige Umstände nach oben gespült hatten - vor einem Trümmerfeld. Aus dem seinem einstigen Lebensinhalten ist ein fragmentarisches Gebilde geworden; aus dem nur noch Erinnerungsstücke heraus ragen.
Nietzsche sagt es so:
Nun stehst du starr,
Schaust rückwärts ach! wie lange schon!
Was bist du, Narr,
Vor Winters in die Welt – entflohn?
Die Welt – ein Tor
Zu tausend Wüsten stumm und kalt!
Wer Das verlor,
Was du verlorst, macht nirgends Halt.
Dieses Gedicht hatte ich vor beinahe 10 Jahren schon einmal aus der Unendlichkeit des Internets heraus kopiert und in eine Trauerrede eingebettet. Der Anlass zum Vortragen des Nietzsche´n Gedichts war just so traurig, wie der Jetzige für diesen Blog - Artikel. Eigentlich dürfte sich Geschichte nicht wiederholen. Tatsächlich wiederholt sie sich sehr wohl.
Die Trauerfeier wird am 30. November in Dresden stattfinden. Vielleicht erscheinen dann doch einige Weggefährten, denen er vor Jahren noch etwas bedeutet hatte.
Das Leben geht indes weiter. Der zu warme November startet in die letzte Woche. Zuvor aber soll es dann doch noch kälter werden; in den Hochlagen schneien. Der Winter klopft an unserer Tür. Vielleicht noch ein wenig zaghaft; wohl aber unaufhörlich. Damit enden auch die wenigen, grauen Novembertage und die Trauertage. Zu deren Anlass es immer noch viele Menschen auf die Friedhöfe bringt.
Da standen wir nun am Mittwoch vor dem Grab. Mir fiel wieder Friedrich Nietzsche ein. Warum eigentlich, immer nur er?
Weil dessen Gedicht genau den Zustand eines im Leben Gestrandeten beschreibt.
Nun stehst du bleich,
Zur Winter-Wanderschaft verflucht,
Dem Rauche gleich,
Der stets nach kältern Himmeln sucht.
Flieg', Vogel, schnarr'
Dein Lied im Wüsten-Vogel-Ton! –
Versteck' du Narr,
Bald wird es schnei'n –
Dein blutend Herz in Eis und Hohn!
Die Krähen schrei'n
Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt:
Weh dem, der keine Heimat hat!
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