My Wendegeschichte - Der verlorene Führerschein
Am letzten Mittwoch des 9. Monats, den 25. September 2019 also, steckte eine Sonderausgabe des " SPIEGEL " im Briefkastenschlitz. Häh? " DER SPIEGEL " an einem Mittwoch? Hatte ich da in den
vorherigen Ausgaben etwa etwas übersehen? Das Hamburger Nachrichtenmagazin lag über viele, viele Jahre immer an einem Montag, dann sogar - wenn auch nur eine kurze Zeit lang - an einem Sonntag und seit vielen Jahren jeden Samstag in meinen verschiedenen Briefkästen. Aber, an einem Mittwoch nie.
Also fischte ich den " SPIEGEL " aus dem Briefkasten und schaute mir das Titelblatt an. Es war eine Sonderausgabe, ein Extra-Heft, das sich mit dem 30. Jahrestag des Mauerfalls, der " Wende " und der darauf folgenden deutschen Wiedervereinigung befasst. Aha! Hier liegt der Hase im Pfeffer!
Eine zusätzliche Lektüre zu und über 30 Jahre Gesamtdeutschland lässt sich natürlich nicht in ein paar Tagen verarbeiten. So begann ich einen Artikel nach dem nächsten zu lesen. Interessant war es schon, was mir dort berichtet wurde. Vor allem die beiden ostdeutschen " SPIEGEL " - Redakteure Stefan Berg und Alexander Ossang schreiben hier ihre eigenen, ganz persönlichen Erlebnisse, Befindlichkeiten und auch Enttäuschungen zu der Nachwendezeit auf.
Während des Lesens erinnerte ich mich auch an einige Begebenheiten in den ersten Jahren nach dem Mauerfall.
Da wäre zunächst die Ausgabe der " Tagesschau " vom 9. November 1989. An jenem Donnerstag, der dann den Anfang vom endgültigen Ende des zweiten deutschen Staates einläutete.
Ich saß damals auf meiner Coach im Wohnzimmer und schaute mir die " Tagesschau " - Ausgabe an. Der vorhandene " PHILIPS " - Farbfernseher - damals noch mit Röhrentechnik - ließ mich an jenem Donnerstagabend teilhaben an dem historischen Ereignis.
Ich nahm es mit Gelassenheit zur Kenntnis. Die Grenze zur DDR, die Berliner Mauer, sie war ab jenem Abend auf. Na, und? Ich hatte andere Sorgen. Das eigene berufliche Fortkommen, das Private war wichtiger; die Politik lief in jener Zeit so nebenher.
Das änderte sich auch nicht wesentlich nachdem die Wiedervereinigung rechtlich vollzogen war und eine Vielzahl von DDR - Bürgern in den vermeintlich " Goldenen Westen " übersiedelten. Den Zusammenschluss der beiden deutschen Staaten hielt ich damals für wenig gelungen. Der Zielsetzung, auf absehbare Zeit identische Lebensverhältnisse in Ost und West herstellen zu wollen stand ich einst aufgrund meiner damaligen Erfahrungen, den selbst gewonnen Eindrücken von der DDR und dem vorhandenen Informationsstand zu und über die beiden unterschiedlichen Wirtschafts - und Gesellschaftssysteme sehr skeptisch gegenüber. Wie sollten demnächst aus einer herunter gewirtschafteten Nationalökonomie, die das Staatsgebiet zu einer Industrie - Kloake verkommen ließ, " Blühende Landschaften " entstehen?
Mein erster Eindruck, den ich wenige Monate nach dem Mauerfall bei einer Fahrt in die Stadt Salzwedel gewonnen hatte, unterstrichen diese vorhandene Grundskepsis um ein weiteres. Sicherlich war das als " Zonenrandgebiet " degradierte, aber im reichlich Steuergeldern in Milliardenhöhe aufgepäppelte Gebiet, so rund um 20 Kilometer vor der nahezu unüberwindlichen Staatsgrenze zur DDR, infrastrukturell nicht unbedingt abgehängt, dennoch war es zu jener Zeit nur sehr spärlich besiedelt. Wer wollte schon als " Westlern " in direkter Nähe zur " Zonengrenze " wohnen?
Nun, meine Erinnerungen an die Ausflugsfahrt nach Salzwedel, das sich auch Hansestadt Salzwedel nennen darf und seit den ersten Wendejahren eine steigende Bevölkerungszahl vorweist, sind nicht gerade erfreulich.
Auf der Fahrt in Richtung der ehemaligen DDR wurde nicht nur anhand der kurz nach dem Ort Dähre klar, dass hier vorübergehend die Welt zu Ende zu gehen schien. Huckeliges Straßenpflaster, herunter gekommene Häuser und ein Grauschleier zeigten sich uns. Nein, hier war die Welt noch nicht zu Ende, aber, es sah so aus, als hätten die 1950er und 1960er Jahre dort für längere Zeit Pause gemacht.
" Da stinkt´s ! ", behauptete dazu meine damalige Angetraute. Sie lag mit dieser Aussage nicht so vollkommen falsch. Die SED - Staatsführung und ihre praktizierte Planwirtschaft ließen Umweltsünden zurück, deren Beseitigung noch 30 Jahre danach nicht vollständig abgeschlossen ist.
In Salzwedel kurvte ich mit meinem Mazda 323 auf Schlagloch durchzogenen, teilweise unbefestigten Straßen. Nach zirka einer Viertelstunde hatten wir die Stadt durchfahren. Es waren dort kaum Menschen zu sehen. Und wenn, erregte unser HB - Kennzeichen große Aufmerksamkeit. Ob wir als Gast willkommen waren, kann ich nicht sagen, denn wir beschlossen, ohne aus dem PKW zu steigen, die Heimreise anzutreten. Vielleicht waren viele Bewohner in den Westen zu Einkaufen gefahren. Die DM galt ja seit einigen Wochen für das so genannte Beitrittsgebiet, die als " Neue Bundesländer " bezeichnete, einerseits unter gegangene, andererseits von der BRD okkupierte DDR, als offizielles Zahlungsmittel.
Das lockte die " neuen Bürger " in die vielen Geschäfte des Westens. Viele von ihnen brachen gleich ganz ihre Zelte ab und zogen aus ihren Wohnorten weg. Sie " siedelten über ", wurden im Westen in als " Übergangsheime " aus dem Boden gestampften Unterkünfte, in Baracken oder Wohncontainern gepfercht und warteten dort auf eine eigene Wohnung.
Nicht wenige der Neubürger erlagen den Verlockungen des scheinbar grenzenlosen Konsums, der durch die georderten Kataloge, über Kaufhäuser und Versandhändler ihnen ins eigene Haus getragen wurde. Der Nachholbedarf an Artikeln des täglichen Bedarfs, aber auch an höherwertigen waren, an Automobilen und Urlaubsreisen führte zu einem, über einige Jahre andauernden Boom.
Damit und dabei liefen massenhaft Neu - Deutsche in eine Schuldenfalle, an deren Ende sehr oft der " Offenbarungseid " und später das Regelinsolvenzverfahren standen.
In jenen, den frühen Nachwendejahren, erschien eine gebürtige Brandenburgerin - sie wurde in Guben geboren - bei meiner vormaligen Kollegin und klagte mir ihr Leid über die Ungerechtigkeiten, die ihr durch das oft rabiate Vorgehen einer Reihe von Versandhändlern widerfahren seien. Sie hatte sich mit Katalogwaren reichlich eingedeckt, dann den Überblick verloren und geriet so in eine Schuldenspirale, aus der es scheinbar keinen Ausweg gab. Sie hatte Verbindlichkeiten in fünfstelliger Höhe aufgetürmt.
Irgendwann im Sommer eines der frühen 1990er Jahre, als meine Kollegin einen Kurzurlaub verbrachte, erschien Frau H. unangemeldet in unserem Büro, da ich sie nur über das noch laufende Mandat der Kollegin O. kannte, erklärte ich ihr, dass diese im Urlaub sei und dass sie bitte einen Termin mit der Kollegin in der übernächsten Woche vereinbaren möge. Doch Frau H. ließ sich nicht abwimmeln. Nein, sie wolle nicht zu meiner Kollegin, denn das Mandat wegen ihrer Schulden habe sich erledigt. Sie sei jetzt wieder verheiratet, wohne in der Nähe von Oldenburg und dadurch ginge es ihr finanziell wesentlich besser.
Ich sah Frau H., die auf dem billigen " IKEA " - Stoff bezogenen Stuhl mit schwarzem Metallkorpus wie ein Plumpsack saß, hinter meinem Schreib mit großen Augen und half offenen Mund an. " Ach, ja, das ist ja toll! ", kommentierte ich ihre Schilderungen zu der ungeahnten Wende in ihrem bis dahin eher trostlosen Leben. Ja, sie habe einen Mann, der bei Oldenburg einen Betrieb aus der Metallverarbeitungsbranche besäße, einige Monate zuvor geheiratet. Dieser habe dann ihre gesamten Schulden bezahlt. Nun käme sie aber wegen einer unangenehmeren Sache zu mir. Sie habe ihren DDR - Führerschein verloren, weil sie eine Dummheit begangen habe. Sie sei betrunken Auto gefahren.
Ich kramte eine Vollmacht aus meiner Schublade, ließ diese von Frau H. unterschreiben und kopierte die polizeiliche Ladung. Zu dem dort vorgegebenen Aktenzeichen meldete ich mich als Verteidiger der Beschuldigten und beantragte Akteneinsicht.
Einige Wochen später erhielt ich die Strafakte von der Staatsanwaltschaft Oldenburg. Ich las diese, ließ sie von meiner Azubine kopieren und bat Frau H. in einem Schreiben, einen Besprechungstermin in meinem Büro zu vereinbaren. Nach einigen Tagen erschien sie erneut und roch wiederum stark nach Alkohol. Es war inzwischen Spätsommer, aber immer noch recht warm in den Kanzleiräumen. Ich hatte deshalb das Fenster hinter mir leicht geöffnet. Dadurch verzog sich die " Fahne ", die von der Frau ausging, relativ schnell wieder. Ich bot ihr einen Kaffee an. Sie lehnte dankend ab und trank stattdessen Mineralwasser. Und zwar gleich die gesamte 0,7 Liter - Glasflasche aus.
Ich erklärte Frau H., dass es nicht gut aussehen würde, dass sie mit einer Geldstrafe von mindestens 40 Tagessätzen zu 30 DM rechnen müsse und zudem die Fahrerlaubnis für bestimmt 9 Monate entzogen bekäme. Sie nahm diese Informationen mit einer nahezu stoischen Gelassenheit hin. Dann erklärte ich ihr noch, dass sie bei einem Antrag auf Wiedererteilung der Fahrerlaubnis damit zu rechnen habe, dass die Führerscheinbehörde von ihr die Vorlage eines Medizinisch - Psychologischen ( MPU ) Gutachtens verlangen werde. Frau H. hatte bei der " Trunkenheitsfahrt " einen Blutalkoholwert von über 1, 7 Promille.
So richtig schien sie es nicht verstanden zu haben. Ich unternahm noch einige Anläufe, um ihr den Zusammenhang zwischen dem Entzug des Führerscheins, der ja aufgrund der Polizeikontrolle und der anschließend abgenommen Blutprobe sowie der danach erfolgten Strafanzeige beschlagnahmt wurde und der ihr drohenden Bestrafung durch ein Richter des Amtsgerichts Oldenburg sowie der späteren Wiedererteilung der Fahrerlaubnis aufgrund eines vorzulegenden, positiven MPU - Gutachtens, zu erklären. Ich beließ es deshalb dabei, sie zu bitten, mich zu informieren, wenn sie mit dem ihr alsbald drohenden Urteil ( ein Strafbefehl ) einverstanden sei.
Sie schien sich indes nicht für meine Erklärungsversuche sonderlich zu interessieren, denn ihre Fragen drehten sich einzig und allein um den drohenden Verlust ihrer DDR - Fahrerlaubnis. Es schien ihr wichtig zu sein, dass sie dieses Dokument, den kleinen Fetzen mit Lichtbild und irgendwelchen, eingetragenen Daten sowie einem Stempel, behalten kann.
Nun, ja, das Verfahren war auch damals denkbar einfach: Wird die Fahrerlaubnis eingezogen, weil eine zeitlich befristete Sperre ausgesprochen worden ist, erhält der Führerscheininhaber sein abgegebenes Dokument nach Ablauf der Sperrzeit im Original zurück. Wird der Führerschein jedoch eingezogen, weil ein Verbot auf Wiedererteilung einer Fahrerlaubnis durch ein Gericht innerhalb einer Zeitspanne ab 6 Monaten bis zu 60 Monaten ausgesprochen wurde, muss dieser neu beantragt werden, weil die zuständige Führerscheinstelle bei der Straßenverkehrsbehörde die Urkunde nach Rechtskraft der gerichtlichen Entscheidung ungültig macht.
Das war bei Frau H. der Fall. Ihr DDR - Führerschein war futsch; sie hätte ein neues, ein BRD - Dokument beantragen müssen. Das schien sie - trotz vielfacher Erläuterung - nicht einzusehen. Sie pochte auf ihren " alten " Führerschein. Ich empfahl ihr deshalb, sich direkt mit der Behörde in Verbindung zu setzen.
Nach einigen Wochen flatterte mittels Postzustellurkunde der Strafbefehl des Amtsgerichts Oldenburg in meiner Kanzlei ein. Ich schrieb Frau H. ein netten Brief, indem ich sie bat, doch nochmal in meinem Büro vorzusprechen. Ich hatte keine plausible Erklärung dafür, weshalb sie nun unbedingt den " alten Lappen " aus der inzwischen untergegangenen DDR behalten wollte.
Frau H. schneite ein paar Tage später in das Büro, das ich damals noch in der Hastedter Heerstraße 164 in Bremen unterheilt, hinein und belöffelte mich erneut wegen ihres DDR - Führerscheins. Mir ging es in diesem Gespräch eher um die juristischen Dinge ihres Falls. Sie hatte eine Geldstrafe von 1.200,-- DM aufgebrummt bekommen. Hinzu kamen noch die Kosten für die Blutentnahme von fast 150,-- DM und weitere Gerichtskosten sowie verschiedene Auslagen. Insgesamt waren es über 1.500,-- DM. Die Sperrzeit betrug tatsächlich 9 Monate. Ich fragte sie, ob sie den Strafbefehl so annehmen möchte, weil es sonst noch teurer für sie werden könnte. Ja,die gerichtlichen Entscheidung wolle sie annehmen, aber nur, wenn ihr die DDR - Fahrerlaubnis zurückgegeben werde.
Mir platzte beinahe der Kragen. Nein, das ginge so nicht, schilderte ich ihr zum wiederholten Male. Der DDR - " Lappen " sei futsch, weg, ungültig. Ich gab ihr nochmals zu verstehen, dass sie nach Ablauf der 9 Monate ab Rechtskraft der gerichtlichen Entscheidung einen neuen Führerschein beantragen könne. Nachdem sie meine drastischen Worte realisiert hatte, geriet Frau H. beinahe in Schockstarre.
Nein, sie wolle unbedingt ihren alten DDR - Führerschein wieder haben. Nein, eine neue Fahrerlaubnis möchten sie partout nicht. Und, nein, ihr wäre jetzt Unrecht geschehen, weil sie das alte Dokument abgehen und verlieren werde. Ich solle dagegen ein Veto einlegen; notfalls sogar Klage erheben.
Ich konnte die gebürtige Gubernerin sodann beruhigen, weil ich ihr anbot, mit dem Amtsgericht Oldenburg zu telefonieren, um die Angelegenheit zu ihren Gunsten zu klären. Dabei stellte ich mich allerdings etwas vollmundig als der Retter in der Not dar. Genau wusste ich es nämlich nicht, ob Frau H. den alten DDR - Führerschein wieder ausgehändigt bekommt. Dieses ist nach der Strafprozessordnung nicht vorgesehen, weil das Dokument als Beweismittel in die geführte Strafakte hinein gefügt wird. Ich dachte mir einen Trick aus. Zunächst beantragte ich deshalb erneut Akteneinsicht.
Inzwischen war der erlassene Strafbefehl des Gerichts rechtskräftig. Die Akte erhielt ich deshalb erst mit leichter Verzögerung. Der DDR - Führerschein der Frau H. lag noch in der Strafakte. Ich kopierte ihn erneut und sandte danach die Strafakte wieder zurück. Frau H. erschien einige Tage später wiederum in meinem Büro. Ich händigte ihr ihren alten DDR - Führerschein aus. Dabei fragte ich sie, warum sie das Dokument nun unbedingt behalten wolle. Ja, der sei als bleibende Erinnerung an ihre schöne Kindheit und Jugend und ihre erste - später dann geschiedene - Ehe in der DDR anzusehen und diese wolle sie sich immer erhalten. Ich verstand es zwar nicht so ganz, weil sie eigentlich im Westen und durch ihre zweite Ehe doch einen gewissen sozialen Aufstieg erhalten habe. Aber, gut, ein Strafverteidiger muss nicht immer alles verstehen, wenn es um die Motivlage des Mandanten geht.
Ich stellte Frau H. eine Gebührenrechnung aus. Die wurde nicht ganz so hoch wie ich ihr vorab gesagt hatte, denn eine Hauptverhandlung vor dem Gericht fand ja nicht statt und für die Extra - Wurst " DDR - Führerschein " berechnete ich ihr nur die Auslagen für die Akteneinsicht. Der Ehemann von Frau H. beglich die Rechnung einige Zeit später.
Von ihr selbst habe ich danach nie wieder etas gehört.
" The Re - Stoned " - " Analog " - " Analog " - 2011:
Kommentare