Im Güldenen Oktober 1954



Wenn es jetzt nach mehr als einem dreiviertel Jahr wieder Herbst geworden ist, erhält die Natur nicht nur in Nord - und Mitteleuropa ein neues Gesicht. Wer sich dann inmitten der Natur umsieht, wird sofort bemerken, dass diese nahezu wöchentlich ihr Bild verändert. Wenn die dritte Jahreszeit ihr buntes Farbspektrum überall zeigt, lässt sie aber auch die Blütenpracht verwelken, die Bäume, Büsche und Sträucher kahl werden und später die Landschaften ergrauen. Das Wechselspiel der Natur zeigt uns damit, das alles im Leben vergänglich ist.

Auch das Dasein eines Menschen auf dieser Erde unterliegt der Vergänglichkeit. Dagegen versucht er sich mit allen Mitteln zu wehren. Je nach Größe des Geldbeutel ( Kontostandes ), weniger nach dem des eigenen Verstandes oder der - ehe nicht - messbaren Intelligenz, wird so mancher Erdenbürger ( die erdrückende Mehrheit ist hier aber weiblich ). Doch wenn der Sensenmann an die Tür klopft, nützen chirurgische Manipulationen an und unter der Außenhaut eben nüscht. 

Ein alternder Mensch hat allenfalls die Chance diesen Prozess zu begleiten, indem er möglichst jene Dinge vermeidet, die das Altern beschleunigen und Erkrankungen fördern, nämlich zu viel Saufen, zu viel Fressen, Rauchen, zu lange, anstrengende Reisen unternehmen. Doch die Mehrzahl der Alten interessiert sich nicht dafür und lebt so wie zu Zeiten ihrer Jugend, des Berufslebens, als er eben noch jünger war.

Die Gefahr, dass der Mensch sich nicht darüber bewusst wird, mit zunehmenden Alter seine Gewohnheiten, seine Marotten eben, aufgibt oder mindestens verändert, ist trotz der umfassenden Informationsmöglichkeiten sehr groß. Nichts wird so gerne beiseite geschoben, als Dinge, die dann eher unangenehm sind, weil der " Normalo " selbst in dieser, unserer, so hoch technisierten Gesellschaft, dann sich eher selten als entscheidungsfreudig zeigt. In der Kohl - Merkel - Manier heißt ein derartiges Verhalten einfach nur: " Aussitzen "!

Dieses alles und noch viel mehr hier mal vorausgesetzt, könnte es durchaus erklärlich machen, wenn ein Mensch weit vor einem - eher statistisch berechneten - Alter aus dem Leben geht. Bei den immer noch üblichen Trauerveranstaltungen, die durch kirchliche Vertreter, wie Pastoren, Pfarrer untermalt werden, wird so schön unbeholfen von: " Gott hat abberufen " gefaselt. Nö, die Menschen selbst und ihre Umwelt haben einen von ihnen aus dem Leben gezogen.

Wer am 05. 10. 1954 geboren wurde, könnte an jenem Samstag, den 278ten Tag des Jahres, vielleicht zusammen mit weiteren Tausenden, Zehntausenden, eventuell gar Hunderttausenden seinen 70. Geburtstag feiern. Diese Personen sind im Tierkreiszeichen Waage zur Welt gekommen; im Jahr des Holzpferdes nach dem chinesischem Brauchtum.

Zu jenem Tag ließe sich noch dieses berichten:

https://geboren.am/5-oktober-1954

An jenem 5. Oktober des Jahres 1954 - das Ende des 2. Weltkriegs war gerade einmal 9 Jahre lang her - wurde mein Bruder in dem Dorf Heeßen / Samtgemeinde Eilsen geboren. Er war das zweite Kind der Eheleute Elfriede und Hubert W. Er wurde - genau wie ich - in äußerst bescheidenen Verhältnissen, aber schon in einem Neubau ( was unter den einstiegen Umständen eher als bemerkenswert anzusehen ist ) geboren.

Die Kindheit war geprägt von eher ärmlichen Verhältnissen. Mitte der 1950er Jahre lag Deutschland, auch Westdeutschland zum Teil noch in Trümmern. Während der Osten, die DDR an den großen Bruder in der Sowjetunion gigantische Reparationsleistungen stemmen musste, gab es im später " Goldenen Westen " immerhin Aufbauhilfe durch den Marshall - Plan. Die BRD sollte an das von den USA bestimmte West - Imperium angekettet werden. Dafür wurde eben auch Schokolade verteilt. Die in den Vereinigten Staaten über eine lange Zeit grassierende Angst vor dem Kommunismus nach russischer Machart schlug in eine Hysterie um, wodurch auch die amerikanische Außenpolitik erfasst wurde.

Dieses alles spielte aber damals im täglichen Leben auf dem Lande keine große Rolle. Hier hieß es eigentlich nur: Überleben, irgendwie Weiterkommen und irgendwann auch positiv in die Zukunft blicken. Trotz der Mühen, Entbehrungen und des ständigen Drucks, der auf der Familie lastete. Verzicht hieß vor allem, sich eben nicht jene Dinge leisten zu können, die es damals schon zu kaufen gab. Doch es ging langsam aufwärts, es ging voran, der materielle Wohlstand hielt auch in der Malocher - Familie mit drei Kindern, mit ihren  Großeltern und einem noch ärmeren Ehepaar, die als heimatlose Ausgebombte in dem knapp 160 m² umfassenden Zweifamilienhaus, bestehend aus vier Zimmern, zwei Küchen, einem Badezimmer ohne Dusche und einem Plumpsklo im Stallgebäude, einen 14 m² Raum mit bewohnten, weil sie zwangseinquartiert wurden.

Diese Zeiten sind zum Glück längst passe´. 

Das Plumpsklo verschwand zum Ende der 60er Jahre und wurde durch ein überschaubar eingerichtetes Badezimmer ersetzt. Auch sonst veränderte sich das elterliche Haus von Jahr zu Jahr. Aus den Kohleöfen wurden Ölöfen, dann eine Ölheizung. Es ging auch bei meinen Eltern " aufwärts ", denn der Wohlstand wurde im Westen Deutschlands vor allem an materiellen Dingen gemessen. Die Eltern schafften sich einen PKW, einen " Ford Taunus 12 M " an und unternahmen mit uns an einigen Sonntagen Besuchsfahrten zu nahe gelegenen Sehenswürdigkeiten.

 Wenn ich mich auch im kommenden Jahr meinen 72. Geburtstag begehen sollte und damit das 8. Jahrzehnt meines irdischen Daseins fortführe, sind auch dann bei mir jene vielen Erinnerungen an die Kindheit und Jugend in den 1950er bis 1970er Jahre zum Teil verblasst; einiges ist jedoch in meinem Gedächtnis nahezu griffbereit immer vorhanden. Es sind jene vielen unangenehmen Seiten jener Zeit. Wenn heute von " wohl behüteten " Aufwachsen im Elternhaus die Rede ist, muss ich zu solchen plakativen Formulieren, zu derartigen Worthülsen, die vornehmlich in der Politik gebräuchlich sind, nur schallende lachen.    

 Geprügelt, misshandelt, gedemütigt, werden Kinder immer noch. Dazu kommen noch ausgeprägter Varianten des " Hänselns ", was in sehr abgeschwächter, dem " Mobbing " oder " Cyber - Mobbing " gleichzusetzen wäre. " Hänseln " bedeutete einst, dass ein Kind, ein Jugendlicher, von anderen Kindern, Jugendlich, aber auch Erwachsenen / Lehrern systematisch durch Wertungen, Worte oder ein ablehnendes Verhalten diesem gegenüber, ausgegrenzt werden soll. Es wird erniedrigt. Es wird seines Selbstwertgefühls beraubt. Durch psychische Gewalt. Von den Schlägen, Ohrfeigen, Tritten usw. mal ganz zu schweigen.

Das " Hänseln " war während unserer Kindheit und in der Volksschule überall zu finden. Ob nun beim Sport, wo ein dicker oder eher ungelenkter Mitschüler ausgegrenzt wurde, in dem er nicht in eine auszuwählende Mannschaft kam oder, ob er wegen seiner Leibesfülle mittels Worten, wie " Fettsack " diskriminierte wurde, spielte letztendlich keine Rolle. Im Ergebnis waren all diese Verhaltensweisen gegenüber " Abweichlern " von den uns vorgegebenen Normen, nahezu identisch und führten dazu, dass sich der Betroffene dabei als minderwertig, als eher unbeliebt, fühlen musste.

Okay, meine beiden Geschwister und ich zählten eher nicht zu den " Gehänselten ", weil wir durchaus sportlich, weil schlank ( eher zu dünn ) waren und beim Sport und in Spielen mithalten konnten, aber es gab auch Situationen, in denen ich mir gewünscht hätte, keine Geschwister zu haben. So zum Beispiel bei dem Erhalt von Geschenken, an Geburtstagen, an Weihnachten, bei Klassenfahrten etc. Dann musste berücksichtigt werden, dass wir eben zu dritt waren.

Nein, unsere Kindheit und Jugend war nicht unbeschwert, sie war nicht frei und deshalb kann ich sie nicht als rosig bezeichnen. Sie war eher geprägt von Kinderarbeit, die zwar auch dazu geführt hat, dass wir zügig relativ selbständig wurden, die aber dann zu vielen Zwängen führte. Der " freie ", weil schulfeie Samstag, war ab den frühen 1960er Jahren geprägt von Hausarbeiten, wie Staubsaugen, Schuheputzen oder Rasenmähen. Auch das Hochschleppen von Ölkannen, das Reinigen der Holz - und später Ölöfen gehörte dazu. Die Eltern hatten selbst keine freie Kindheit und Jugend erlebt.

 Irgendwann wünschte ich mir möglichst schnell auszuziehen, damit ich meinen eigenen Interessen nachgehen konnte und nicht ständig reglementiert und von den Eltern kontrolliert werde. Doch dazu ist es bis zur Studienzeit nie gekommen. Ich war dazu zu geizig und vor allem aber zu feige.

Im Gegensatz zu meinem Bruder. Der zog mit  19 aus und lebte zeitweise in einer WG. Seine damalige Freundin und spätere Ehefrau wohnte dort auch. Es war ein uralter Bauernhof, der eher idyllisch im Dorf Friedewalde bei Petershagen an der Weser gelegen, ihnen dann vorüber gehenden Unterschlupf bot. Nach zirka einem Jahr scheiterte das Experiment. Es gab zu viele Streitereien zwischen den Bewohnern. Vor allem wohl deshalb, weil das Geld, das auch damals schon eine wichtige Rolle spielte, hinten und vorne nicht ausreichte. Die Friedewalder - WG war aber eine Erfahrung für uns alle, auch für mich, wie es besser nicht ablaufen sollte. 

Ich habe dadurch den festen Entschluss gefasst, mich später auch als Student nie auf solche Wohnexperimente einzulassen. Für mich bedeuteten sie vor allem den Verlust von kostbarer Zeit, die sinnvoller als durch ewige Diskussionen über Küchen - und Reinigungsarbeiten zu verplempern, genutzt werden konnte. Auch mit dem frühzeitigen Sich binden an eine Freundin habe ich so meine Probleme gehabt. Für mich war dieses eher ein Klotz am Bein, denn eine so genannte feste Freundin hemmte meinen Drang in dem Sammeln von Lebenserfahrungen.

Mein Bruder sah das völlig anders.

Er hatte sich ab Mitte der 1970er Jahre fest gebunden und diese Frau dann 1978 geheiratet. Davor erlangte er - so wie ich auch - über den Zweiten Bildungsweg die Fachhochschulreife. Danach trat er in Lütjenburg seinen Kriegsdienst in der dortigen " Schill - Kaserne " an ( https://de.wikipedia.org/wiki/Schill-Kaserne_(Lütjenburg) ). Nein, er sah die Bundeswehr nicht so kritisch, wie viele in unseren Jahrgängen. Deshalb verpflichtete er sich auf als Soldat auf Zeit. 

Mehr als zwei Jahre später wurde er als Student in Mönchengladbach wohnend, Vater eines Sohnes. Sein darauf folgendes Leben verlief so, wie auch seine / unsere Kindheit und Jugend. In Wellen förmigen Auf - und Abwärtsbewegungen. Nach seinem Studium der Betriebswirtschaftslehre in Mönchengladbach wäre er - so wie Tausende Betriebswirte auch - arbeitslos geworden. Das war er für einige Monate dann auch. Er warb sich zwar bei verschiedenen Firmen in Mönchengladbach - jedoch erfolglos. Einige der auf Vermittlung des Arbeitsamtes angeschriebene Betriebe sandten seine Unterlagen ungeöffnet zurück; andere wiederum bemüßigten sich immerhin seinen Lebenslauf zu betrachten; weitere speisten ihn mit Floskeln innerhalb der schriftlichen Absagen ab.

Er war dann für knapp ein Jahr als Sachbearbeiter in der Kindergeldkasse des Arbeitsamtes Düsseldorf tätig. Es folgten zirka 2 Jahre als Vertriebsverantwortlicher bei der " Kamps Bäckerei " in Düsseldorf. Zum Ende der1980er Jahre verschlug es seine Familie und ihn nach Flein einer Gemeinde in der Nähe von  von Talheim im Landkreis Heilbronn. Dort war er als Filialbetreuer einer mittelständischen Backwarenkette bis 1994. Von dort zog er zunächst nach Oldenburg in Niedersachsen um, ehe seine Stationen über  Lichtenau, einem Ort bei Paderborn, wo er die Filialen einer Bäckereikette von Höxter, Beverungen, Brakel, Bad Driburg bis in die Stadt Paderborn zu betreuen hatte.

Ab Ende der 1990er bis zum Beginn der Nullerjahre endete seine berufliche Odyssee in Bad Krozingen. 

Hier verstarb meine Bruder am 09. 05. 2020 - mutmaßlich an " Corona ".

Seinen Renteneintritt konnte er nicht mehr genießen. Das hat er dafür in all den Jahren, den Jahrzehnten, in denen es ihm wirtschaftlich und finanziell relativ gut ging, quasi vorgeholt. Er gab Geld mit beiden Händen aus, war ein Freund des guten Essens ( möglichst ohne viel Gemüse ) und  Biertrinker. Er war Nichtsportler und bewegte sich -  mit Ausnahme beim Hobby - Tanzen -  eher wenig. Weil er den leiblichen Genüssen zuträglich war, wog er irgendwann bis zu 106 Kilogramm und wurde von einem konsultierten, jungen Arzt dafür angezählt.

Nicht nur in der Hinsicht unterschieden wir uns voneinander. 

 Bis auf eine kurze Zeit ab Mitte der 1960er, als die Beatmusik, das Zigaretten rauchen und die ersten Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht uns ein wenig einten, blieben wir dennoch weiterhin sehr verschieden. Mein Bruder hörte später Musik von " Peter, Paul & Marie ", Leonard Cohen " oder Bob Dylan, während ich mehr auf " Deep Purple ", " Black Sabbath " oder " Ten Years After " stand.

Okay, bei " Radar Love " von "  Golden Earring ", Morning Dew " von " Nazareth  oder " Boogie " von UFO gingen unsere Musikgeschmäcker konform; doch Leonard Cohen war damals nicht so mein Ding. 

Ebenso war der Freundeskreis ein völlig anderer. Und darin eingeschlossen, auch der, was die holde Weiblichkeit betrifft.

Nunmehr, vom Alter her, zu den Eisgrauen zählend, erinnere ich mich dann und wann noch an einige Ereignisse oder vielleicht Episoden unserer, ab Mitte 1970er beinahe parallel verlaufenden Leben. Da waren meine Einflussmöglichkeiten noch vorhanden. Ob ich seine späteren Entscheidungen hätte revidieren können, dürfte indes eher unwahrscheinlich gewesen sein.

Mein Bruder war eher ein manchmal " sturer Esel ". Er wäre am 5.Oktober 2024 70 Jahre alt geworden. Seine Asche lag kurz nach seinem Tod für einen Augenblick verstreut auf der Wasseroberfläche des Bodensees. Somit bleibt nicht einmal die Möglichkeit sein Grab aufzusuchen. So, wie ich von dem verbliebenen Rest der Familie nicht über seinen Tod in Kenntnis gesetzt wurde.

Woran das wohl gelegen hat?    

 

 


3rd EAR EXPERIENCE  - The  Old Woman Dance   -  Stone Of A Feather  -  2016:

  


 


  

BEAR THE MAMMOTH  -  Molly  -  Yamadori  -  2014:


 



   


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