Zur Psychologie des Sozialismus oder: Wie der Kapitalismus püchologische Probleme löst.
Als ich kürzlich ein vor vielen Jahren noch handschriftlich geführtes Telefonverzeichnis aus dem Aktenregal entnahm und darin herum blätterte, las ich unter dem Buchstaben " W ", wie Wilhelm, den Namen Wegner. Hmmh, Wegner, das war doch die mit den drei Kindern von drei verschiedenen Männern, die ständig mit querulantischen Rechtsfällen ankam, keinen Pfennig auf der Naht hatte und sich deshalb eigentlich keinen Anwalt leisten konnte.
W. ( den Vornamen nenne ich hier jetzt nicht ), war in Bernau, einer heute kreisangehörigen Stadt des Landkreises Barnim, der dem Bundesland Brandenburg zugehörig ist, in den 1960er Jahren geboren. Bis zur Wende war Bernau, mit seinen knapp 37.00 Einwohner, dem Bezirk Frankfurt / Oder eingegliedert.
Nun, Frau W. erhielt nach ihrer Geburt, die volle Dröhnung der real - sozialistischen Erziehung und heiratete früh, weil sie sonst keine Wohnung bekommen hätte. W. bekam von ihrem damaligen Mann zunächst ein Kind mit dem Namen Ma.
W. erhielt von der DDR einen zinslosen Ehekredit über 5.000 DDR - oder Ostmark, den die Eheleute dann in monatlichen Raten a´50 Mark abstottern durften, W. wurde dann Mutter und konnte den Kredit um 1.000 Mark vermindern; durch das so genannte " Abkindern ".
W.´s Ehe wurde geschieden. Sie heiratete erneut, und zwar noch vor 26 Jahren, einen in etwa Gleichaltrigen, von dem sie inzwischen schwanger war. Auch diese Ehe wurde danach geschieden. Aus einer weiteren Beziehung bekam W. ein drittes Kind. Der Vater war unbekannt und zahlte, wie die anderen beiden Erzeuger auch, keine Kindesunterhalt, der zu DDR - Zeiten eben nicht sehr üppig war.
Die Wende kam und kurz nach der Maueröffnung zog W. mitsamt ihren drei Kindern nach Niedersachsen, in ein Kaff in der Nähe von Bremen. Für W. war Westdeutschland das reine Paradies. Keine Arbeitspflicht, so, wie in der DDR. Unterhaltsvorschusszahlungen von Papa Staat und auch sonst regelte das Bundessozialhilfegesetz alles, was zur Versorgung der Familie W. ohne Vater erforderlich war.
Doch W. kam mit der neu gewonnene Freiheit nicht zurecht. Die Kinder - inzwischen längst schulpflichtig - auch nicht. Es gab dauernd Ärger. Mit dem Vermieter, den Nachbarn, der Schule, der Polizei, den Ämtern, den Gerichten.
Eines Tages erschien W. - wohl auf Empfehlung einer weitläufigen Bekannten, deren Familienrechtssachen ich einst betreut hatte - in meinem Büro und übergab mir zwei dicke " Leitz " - Aktenordner, schwarz, beschriftet, groß, DIN A4 - Format und fragte ehrfurchtsvoll: " Können Sie mir da helfen? ".
Ich schaute W., die eher klein und pummelig war, leicht ungewaschene Klamotten, die nach Rauch stanken und etwas fettige Haare mit einem Pony im Gesicht, trug, wie ein stehen gebliebener Trecker an, als ich die beiden " Leitz " - Ordner - Schwarten auf dem Tisch liegen hatte. " Wie, jetzt? Helfen? ".
" Na, ich brauche einen Anwalt, der das hier für mich macht. ", beantwortete sie meine Frage.
Ich bat sie, auf dem Stuhl, vor meinem Schreibtisch, Platz zu nehmen und hörte mir ihre Geschichte an, während ich in dem Konvolut herum blätterte. Auf dem ersten Blick war dort so ziemlich alles an Rechtsfällen enthalten, die ein Feld - Wald - und Wiesenanwalt beackern konnte.
Sozialrecht, Familienrecht, Mietrecht, Kaufvertragsrecht, Nachbarrecht, Ordnungswidrigkeitenrecht und selbstverständlich als Bonbon auf die gesamte Wundertüte herauf gesetzt: Auseinandersetzungen mit einer Horde Gläubiger.
Da war natürlich guter Rat billig, denn Kohle hatte sie zudem auch nicht. Ich ließ sie eine der handelsüblichen Vollmachten unterzeichnen, behielt die beiden " Leitz " - Ordner auf dem Schreibtisch und bat sie nachdrücklich zu dem Amtsgericht im benachbarten Syke zu fahren und dort einen Beratungshilfeschein zu beantragen, damit ich zumindest meine investierte Zeit vergütet bekam.
Einige Tage später schneite Frau W. zu dem zuvor vereinbarten Termin erneut in das Büro herein. Dieses Mal hatte sie ihren Jüngsten mitgebracht. Der saß eher teilnahmslos auf dem weiteren Bürostuhl und starrte die geweißelte Wand an. Erst als ich ihm ein Stück Schokolade, das ich aus meinem Vorrat in der unteren Schublade meines Schreibtisches hervor kramte, anbot, erhellte sich die Miene des Jungen. Seine Mutter unterschrieb indes eine Vollmacht nach der anderen, die ich auf die vorbereiteten Aktendeckel gelegt hatte.
Nachdem die Unterschriften - Orgie beendet war, hatte Frau W. für mich ein kleines Präsent bereit gelegt: den Beratungshilfeschein des Amtsgerichts Syke. Sie hatte es tatsächlich geschafft, diesen zu besorgen. Immerhin waren damit - sage und schreibe - 45 Deutsche Mark plus 16 % Mwst. irgendwann in den nächsten 3 bis 4 Monaten auf eines der Kanzleikonten zu überweisen, und damit in Sachen W. endgültig sicher gestellt.
Frau W. stand auf, verabschiedete sich per Handgeben von mir und röhrte nebst dritten Sohn in ihrem uralt VW Polo, dessen Auspuffanlage enormen Lärm verursachte, von dannen.
Wenig später nahm ich mein Philips - Diktiergerät, klappte es auf und legte eine Mini - Kassette hinein. Dann betätigte ich den Aufnahmeknopf und legte los. " An X - Y - Z..... .
Sehr geehrte Damen und Herren, sehr geehrte Frau X... Sehr geehrter Herr Z. " usw. usf.
Zwischenzeitlich brühte ich mir eine Kanne Kaffee, besorgte mir von der Bäckerei - Klitsche im übernächsten Haus zweit Stücken Mohnkuchen, die ich während des Diktat - Marathons locker verputzte. Nach 30 Minuten war die erste Kassette besprochen. Ich legte diese auf den Aktenstapel und fuhr - nachdem ich eine zweite Kassette eingelegt hat - mit dem Diktieren in Sachen W. fort.
Irgendwann in den späten Nachmittagsstunden hatte ich die W - Rechtsfälle abgearbeitet. Ich legte die Akten auf die Seite neben der Schreibmaschine, fügte die Kassetten dazu und ließ die Jalousien herunter - Feierabend. Ich fühlte mich wie gerädert. Die W. nervt, dachte ich so bei mir und schloss, den Pilotenkoffer in der Hand, die Bürotür zu.
Am nächsten Morgen erschien meine Azubine gegen halb neun, zog ihre Jacke aus und ging hinter den Tresen. Kaum hatte sie den Aktenberg gesehen, fragte sie entsetzt, woher dieser käme. " Das sind alles Wegner - Fälle. ", antwortete ich ihr. " Nein, das gibts doch nicht. ", hörte ich sie sagen.
Dann klappte sie die Schreibmaschine auf und hämmerte los.
Sie tippte und tippte und tippte, so stoisch vor sich hin, wie ein alter VW - Käfer läuft und läuft und läuft. Dann kam sie mit dem ersten Aktenberg zum Korrektur lesen in mein Zimmer. " Hat der Kuchen geschmeckt? ", wollte sie dabei wissen. " Hmmh, war lecker, Mohnkuchen von nebenan. ".
Ich hatte den Wink mit dem Zaunpfahl verstanden und besorgte uns am Nachmittag ein Stück Mohnkuchen,
Meine Azubine tippte und korrigierte auch am nächsten Tag die W.´schen Rechtsfälle, von denen ein Teil inzwischen im Aktenschrank verschwand, weil die Schreiben per Post schon am Vortag versandt werden konnten.
Es vergingen einige Tage, ehe nach und nach die schriftlichen Antworten auf meine Schreiben in den W. - Rechtssachen ins Büro flatterten. Genauso, wie die Akten der Mandantin in den Schrank verstaut worden waren, zog sie die Azubine nun wieder heraus.
Nach und nach las ich die Antwortschreiben durch und lies in einigen Streitsachen Kopien für Frau W. anfertigen. Diese bekam sie in einem DIN A 4 - Umschlag zugesandt, mit der Bitte, hierzu Rücksprache zu halten.
Die Woche darauf erschien Frau W. erneut im Büro. Der Auspuff war immer noch defekt und die alte Möhre hörte sich wie ein " Lanz " - Trecker aus Twistringen an. Die Mandantin nahm vor meinem Schreibtisch Platz. Dann legte ich los. In den meisten Fällen machte ich ihr wenig Hoffnung, dass sie dort durch meine Einschaltung irgendetwas verbessern könne. Es waren meistens Forderungen aus Warenlieferungen von der gesamten Palette jener Versandhäuser, die eben den " Goldenen Westen " einst ausmachten. Sie war der Verlockung unterlegen gewesen, ohne Cash auf den Tresen legen zu müssen, verschiedene Artikel geliefert zu bekommen.
Ich schlug ihr vor, Kleinstraten anzubieten, damit die Chosen nicht gleich in ein gerichtliches Mahnverfahren enden.
In den drei Unterhaltsfällen konnte ich ihr indes Hoffnung machen. Die drei Väter hatten Arbeit und verdienten mittlerweile Geld, so dass sie die Unterhaltssätze bezahlen konnten. Doch sie wollten nicht und so riet ich Frau W. zur Klage.
Also: Prozesskostenhilfeformulare ausfüllen, Sozialhilfebescheide beifügen und mit der Klageschrift, ab in die Post. Frau W, war zufrieden und weil sie es war, begann sie aus dem Nähkästchen zu plaudern. Von damals, zu DDR - Zeiten, als sie verheiratet war, der Mistkerl fremd ging und sie verließ - mit Kind und dem Ehekredit über 5.000 DDR - Mark, den sie dann alleine abgestottert habe, aber, nicht Alles, weil sie ja durch beiden Söhne Ma. und Mi. 1.000 sowie weitere 1,500 Mark " abkindern " konnte.
" Bitte, was? ", stellte ich ihr mit halb offenen Mund daraufhin die Frage.
" Na, ja, Abkindern eben. Ich musste wegen Ma. und Mi. nicht den ganzen Kredit zahlen. "., lautete ihre Antwort.
Nun kannte ich aus dem DDR - Vokabular so einige Begriffe, die für Westdeutsche Ohren sehr befremdlich klangen. Jene. eher propagandistischen Wortschöpfungen eben. Solche, wie " Plansoll - Übererfüllung ", " Antifaschistischer Schutzwall " oder auch " Kaderleiter " und auch DDR - Produkte, wie " Haloren - Kugeln ", " Radeberger Pils " MZ Motorräder " waren mir bekannt; zudem auch, dass - nach den Fantasien der DKP - Hochschullehrern und MSB - Spartakisten in den Diskussionsgruppen -, die DDR - Verfassung längst die Gleichberechtigung von Mann und Frau vorgesehen habe. Dass nun die Realität im real - existierenden Sozialismus eine völlig andere Position der Frau vorsah, wurde selbst verständlich unter den Teppich gekehrt. Und so stellte ich Frau W. erneut die Frage, was denn mit " Abkindern " gemeint sei.
So erzählte sie mir, frei von der Leber weg, was es mit diesem Begriff auf sich hatte, aber auch, dass sie, nachdem ihr drittes, dann nicht eheliches Kind auf die Welt kam, ein Betriebsarzt sie zu einer ( Zwangs ) - Sterilisation überschrieben habe. " Wir werden da jetzt für sorgen, dass es bei Ihnen genug ist mit dem Werfen. ", so oder so ähnlich soll er sich einst geäußert haben.
Ich war entsetzt. Erst " Abkindern ", dann zwangsweise Sterilisation, was war dass nur für ein Staat? Das waren ja faschistische Methoden. Dann schilderte Frau W. mir noch, dass sie wegen ihres ersten Ehemannes Ärger mit der Staatssicherheit gehabt habe. " Ach, mit der Stasi gab´s auch Stress? ", fragte ich sie eher süffisant. Was da genau vorgegangen war, wusste sie nicht, aber ihr Ex - Mann soll verdächtig gewesen sein, in den Westen ´nüber machen zu wollen. Häh? Wieso denn das? So stellte ich ihr gleich die Frage.
Frau W. wusste es nicht so genau. Dann schlug sie vor, die Stasi - Unterlagenbehörde in Berlin zu kontaktieren und dort ihre Akte einzusehen.
" Nee, nee, das lassen `Se ma schön bleiben! ", gab ich ihr darauf die prompte Antwort. Ich wusste nämlich aus anderen Mandaten, dass die Behörde keine Akten heraus rückt und der Petent dort persönlich oder eine mit seiner Vollmacht versehene Person vorstellig werden muss. Akten werden nicht versandt, so erklärte es mir einst ein Mitarbeiter aus Berlin.
Als Frau W. das Büro verließ, kamen mir wieder diese dunklen Gedanken an den Querulanten, an die Querulanz und an Michael Kohlhaas, jener Kleist´schen Figur in der gleichnamigen Novelle, unter deren Bezug sich auch Querulanz schön erklären lässt und dessen Bedeutung ich in dem ersten Jura - Semester, während des rechtsphilosophischen Kurses erklärt bekam. War Frau W. eine verkappte Version des Kohlhaas?
" Fiat iustitia, et pereat mundus " ( " Es soll Gerechtigkeit geschehen, und gehe auch die Welt daran zugrunde! " ).
Nein, vor diesen Ochsenkarren werde ich mich nicht spannen lassen. Ergo: Ich bügelte das Ansinnen der Frau W. rigoros ab und versuchte mich in der Folgezeit an der mühsamen und teils Brot losen Bearbeitung der W,´schen Fälle.
Einen Teil der Mandate konnte ich - zur vollsten Zufriedenheit von Frau W. - dann doch beenden. Die drei Väter kassierten allesamt Urteile in den Unterhaltsprozessen, die ich später dann - teilweise erfolgreich - vollstrecken ließ. Immerhin, der erste Mann hatte es nach der Wende zu einem gut gehenden Gebrauchtwagenhändler gebracht, womit ich dessen Tageskasse pfänden ließ. Auf Druck zahlte er dann fleißig den Unterhaltsrückstand an die Mandantin für seinen Sohn.
Frau W. bekam langsam Luft in ihrem Chaos, dass das ungeordnete Leben so mit verursacht hatte. Doch damit war nicht genug. Ein paar Jahre später gab es wiederum Stress mit den beiden halbwüchsigen Söhnen. Sie hatten erhebliche Schulprobleme und es drohte der Abstieg in eine Sonderschule (auf neu - deutsch: Förderschule ). Frau W. wollte dieses jedoch verhindern, weil sie die Auswirkungen einer solchen Maßnahme
nur zu gut kannte. Sie schlug wieder in der Kanzlei auf und erzählte mir davon. Dabei formulierte sie ständig Sätze, die von einem Schulpsychologen, den Schulpsychologischen Dienst und Psychologischer Begleitung handelten. Die einfach gestrickte Dame und Mutter indes, konnte den Begriff " Psychologie " nicht richtig aussprechen und redete fort während von der " Püchologie ", den " Püchologen " oder dem " Püchologischen Dienst ", der ihren Söhnen helfen sollte.
Nachdem sie Psychologie zum x - ten Male völlig falsch aussprach, platzte mir der Kragen: " Frau W. , also, wissen Sie, das heißt Psychologie und Psychologe, nicht Püchologie und Püchologe! ". fuhr ich sie an. Sie nickte und schämte sich wohl ein wenig dafür, dass sie solche Begriffe nicht kannte, weil ihre Schulausbildung auch unter den Bedingungen des - laut Partei und Propaganda in der DDR - überlegenen Sozialismus, nicht ausreichend war.
Dann stellte ich ihr die entscheidende Frage: " Frau W,, was soll ein Schulpsychologe Ihren Söhnen mit geben? ". Und gab dann selbst die Antwort sowie einen Ratschlag: " Nichts, Frau W,, gar nichts! Suchen Sie sich einen Partner, der ihren drei Jungs ein guter Vater ist. Dann klappt das auch! ".
Sie sah mich etwas verwundert an. Nachdem sie das Büro verlassen hatte, war ich mir einen winzig kleinen Moment nicht ganz sicher, ob ich ihr den richtigen Ratschlag mit auf den Weg gegeben hatte.
Einige Monate später erschien Frau W, in Begleitung eines kräftigen, leicht untersetzten Mannes, den sie auf dem Dorfgemeinschaftsfest kennen gelernt hatte. Er war mittlerweile bei ihr eingezogen und brachte wieder Ordnung in ihr Leben. Die Jungs gingen wieder regelmäßig zur Schule und mussten nicht in die " Hilfsschule " gehen. Der Auspuff von ihrem VW Polo war immer noch defekt, weshalb sie mir einen Bußgeldbescheid der Stadt Twistringen vorlegte.
Ich sah mir den Wisch an, blickte zu den Beiden auf und empfahl ihr dann: " Frau W, lassen Sie´s gut sein, dass bringt nichts. Das ist Querulanten - Wahn aller erster Ordnung. Ohne Rechtsschutzversicherung wird das x - Mal so teuer. Bezahlen Sie den Scheiß und gut ist! ". Der Mann grinste mich kurz an, dann standen Beide auf und gingen.
Der Wahn der Querulantin hatte damit sein Ende, denn sie kam nach Abschluss aller Mandate nie wieder.
https://de.wikipedia.org/wiki/Querulant
In diesem Sinne: Gut´s Nächtle mit dem Brandenburger Symphonieorchester und " The Typewriter " :
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