So habe ich den Krieg gesehen - Teil I: Oberschlesien von 1924 bis 1944


Wer, so wie ich, auf einen heute 93jährigen Vater verweisen kann, der darf damit rechnen, dass dieser den II. Weltkrieg in irgendeiner Form nicht nur erlebt, sondern diesen auch überlebt hat. Das war damals nicht ganz so einfach. Schließlich wurde alles an männlichen Reichsbürgern, was sich einigermaßen auf den Beinen halten konnte, zum Kriegsdienst verpflichtet. Es mussten nicht nur Räder für den Sieg, sondern später auch Köpfe der jungen Soldaten für den Endsieg, rollen. Der Gefreite aus Braunau am Inn wollte dieses so; die um ihn herum stehende Mörderbande setzte seine Hirngespinste in die blutige Tat um.

Am 22. November 1924 wurde mein Vater in Niederkunzendorf bei Kreuzburg - Kluczbork - (https://de.wikipedia.org/wiki/Kluczbork ) , dem heutigen Kujacowice Dolne geboren. Nach einer eher bescheidenen Kindheit, die er zusammen mit zwei weiteren Geschwistern bis zur Einschulung im April 1931 erleben durfte, kam er in die Volksschule in Oberkunzendorf, dem heutigen Kukakowice Gorne ( Woiwodschaft Opole = Oppeln ). Dort verließ er die Schule nach 8 Jahren und begann eine zweijährige Maurerlehre in einem Familienbetrieb in Kloszbork. Nach bestandener Prüfung wurde er dann im November 1942 gemustert und zur Wehrmacht eingezogen.

War die Kindheit in jener Zeit bereits entbehrlich, denn der Vater, also mein Großvater Richard, war als so genannter Wanderarbeiter im Straßenbau tätig und deshalb Jahr für Jahr nur wenige Wochen im Winter zu Hause, womit auch das Geld, dass er seiner Frau Cecilie geben konnte, eher knapp bemessen, so waren mein Vater und die beiden Geschwister Eduard, der ältere Bruder sowie Gertrud, die jüngere Schwester, so erzogen, dass sie alle eine Ausbildung durchliefen. Der Bruder Eduard schloss eine Zimmermannslehre ab; die Schwester Gertrud ging in Stellung bei einer wohlhabenden Landwirtsfamilie und schloss eine Hauswirtschaftslehre ab.

Der Vater Richard war streng, aber dann auch eher gerecht. Er hasste das Großmaul aus Braunau am Inn, seine Mitläufer und die Schergen in den oberschlesischen Orten, die sich nach der Machtergreifung 1933 zu den braunen Horden gesellten. Er pöbelte deshalb offen gegen jene Opportunisten und Bauern, die dann zudem Profiteure deren wurden. Er lehnte es ab, für und in die NSDAP einzutreten. Weshalb dann mein Vater und seine beiden Geschwister als " Kommunistenkinder " gehänselt und beschimpft wurden.

Es war einige Jahre nach der Machtergreifung des Massenmörders. In der Schule wurde sein Drecksbuch " Mein Kampf " zur Pflichtlektüre. Die Lehrer waren bereits - einer von ihnen eher zwangsweise - braun und ideologisierten ihre Schüler im Sinne der nationalsozialistischen Lehre ( die ja in Wahrheit keine war / ist ). Weil sich die Mitläufer jener Ideologie natürlich auch in den dortigen Dörfern rund um Kluszbork breit gemacht hatten, sein Vater Richard - was diese Halunken natürlich wussten - mehr als ein Dreivierteljahr außer Haus war, versuchten einige von ihnen, seine Familie zu terrorisieren.

Nachdem einer dieser Emporkömmlinge während der Abwesenheit seines Vaters Richard ständig in dessen Haus in Kujakowice Dolne auftauchte, dort die Mutter Cecilie bedrängte, einen großen Räucherschinken aus der Speisekammer stahl, der von einem im vorgängigen Winter selbst geschlachteten Schwein stammte, platzte dem Vater Richard der Kragen. Er befragte meinen Vater sowie auch nacheinander die anwesenden Geschwister nach dem Vorfall, den er - allerdings erst nach seiner Heimkehr von seiner Frau Cecilie geschildert bekam - und konnte sich so ein genaues Bild zu den Vorfällen und dem Dieb und Möchtegern - Casanova aus dem Ort machen.

Eines Sonntagsmorgens im Winter, der auch in Oberschlesien bereits im November begann, bis Ende März andauerte, bitterkalt und schneereich war, spannte mein Großvater Richard das Pferd vor den großen Transportschlitten und legte spezielle Winterdecken auf die dort montierte Schlittenbank, die, wie ein Bock auf einem Pferdewagen aussah. Er frage meinen Vater, ob er Lust hätte, mit ihm auf dem Schlitten in die Katholische Kirche in Kujakowice Gorne zu fahren. Eigentlich waren weder mein Großvater Richard, noch nach seiner Kommunion, mein Vater, große Kirchgänger. Ganz im Gegenteil. Sie standen sehr kritisch zu den Pfaffen der Katholischen Kirche, denn die nassauerten sich über all durch, bekamen von den reicheren Bauern ständig Geschenke in Form von Wurst, Fleisch und Gemüse und behandelten diese deshalb auch privilegiert. Die " vollgefressenen Pfaffen ", wie sie mein Vater auch später noch nannte, waren deshalb in den Augen meines Großvaters Richard, damals Schmarotzer. Doch sie verkündeten den Zeitgeist und predigten diesen von der Kanzel. Und: Sie achteten darauf , wer dabei das Gotteshaus während der Sonntage besuchte.

Nun, auf dem Weg zur Kirche, der durch mannshohe Schneewehen und Schneehaufen entlang der unbefestigten Dorfstraße führte, mussten auch jene Einwohner gehen, die von den umliegenden Häusern und Höfen kamen. So auch jener Mann, der zuvor meine Großmutter Cecilie bestohlen und malträtiert hatte. Mein Großvater Richard wusste dieses ganz genau. Er fuhr somit mit meinem Vater auf dem Schlittenbock in Richtung Kirche los und hatte vorher einen Ochsenziemer  unter seinen dicken Wintermantel gesteckt. Zudem lag eine Peitsche auf dem Schlitten, die er zwar nie benutzen musste, weil mein Großvater Richard exzellent mit Pferden umgehen konnte und dieses auch später meinem Vater beibrachte. Dieses Können sollte ihm später mehrfach das eigene Leben retten.

So trabte das Schlittengespann von dem elterlichen Haus auf die Dorfstraße in Richtung des 3 Kilometer entfernt belegenen Nachbarortes Kujokowice Gorne. Für diese Strecke benötigte es vielleicht eine gute Viertelstunde. Ein Fußgänger müsste nahezu das Doppelte an Zeit berücksichtigen. Bereits einen Kilometer nach dem Ortsende erkannte der Vater Richard den benannten Peiniger und Dieb aus der Nachbarschaft auf dem vom Schnee beräumten Straßenrand gehen. Er bewegte nur leicht die Zügel, ließ das Pferd in den Schritt über gehen, nahm die Peitsche vom Schlitten und schlug unversehens damit auf den Nachbarn ein. Der begann zunächst schreiend davon zu laufen, kam im Schnee zu Fall, rappelte sich wieder auf und lief angsterfüllt, wie ein getriebener Hase vor dem Schlitten her. Vater Richard schlug und schlug auf den bereits wimmernden Mann ein. Er schlug solange, bis die Peitsche riss.
Doch, als der Gepeinigte dachte, er wäre noch einmal davon gekommen, zog Richard den Ochsenziemer unter dem Wintermantel hervor. Während der Nachbar immer noch wie ein Hase zwischen dem Schlitten und der Meter hohen Schneewand entlang lief, drosch Vater Richard auf ihn ein. Er prügelte mit dem getrockneten Bullenpenis auf den wieder wimmernden und winselnden Kerl ein.

Erst als die Kirche in Sichtweite kam, ließ mein Großvater Richard von ihm ab. Blutverschmiert und mit Striemen auf der Haut schleppte sich der Nachbar bis vor die Kirche und wusch sich dort das Gesicht, ehe er den Kirchenraum betrat. Er sagte nichts mehr, sondern setzte sich in die letzten Reihen der Kirchenbänke, wo er während des Gottesdienstes verharrte. Mein Vater und Großvater Richard nahmen indes auf den vorderen Bänken Platz, wo der Pfarrer sie sah. Damit konnte der Nachbar später nicht behaupten, er wäre von Vater Richard blutig geprügelt worden, denn der saß nebst meinem Vater ja vorne in der Kirche, bevor der Nachbar den Raum betreten hatte.

Nach der ordentlichen Abreibung, von der natürlich dann doch das gesamte Dorf und die Orte in der näheren Umgebung hörten, traute sich kein einziger Kerl aus der NSDAP - Bande mehr auf das Grundstück. Es herrschte Ruhe, so, wie mein Großvater es auch prophezeit hatte. Nein, der Oberschlesier mit deutschen Vorfahren, also mein Großvater Richard, war ein korrekter, ein aufrichtiger Mann mit Prinzipien. Er ließ sich damals nicht kaufen. Von den frechen Bauern nicht, von den noch frecheren Pfaffen nicht und von der nationalsozialistischen Mitläufer - Brut schon gar nicht.

Bevor der Krieg 1939 mit dem feigen Überfall auf Polen begann, lebte mein Vater noch im Kuaokovice Dolne. Und aus jener Zeit stammend, erzählte er mir eine weitere Geschichte von einem riesigen, schwarz - weißen Kater, der im Haus seiner Eltern lebte und dort die Mäuse, Ratten und Wiesel jagte und zur Strecke brachte. Darüber mehr im nächsten Posting.

Czeslaw Njemen und Jednego Serca :












Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

" Eine Seefahrt, die ist lustig. " - nur nicht in den 60er Jahren zum AOK - Erholungsheim auf Norderney.

" Oh Adele, oh Alele, ah teri tiki tomba, ah massa massa massa, oh balue balua balue. " und die Kotzfahrt nach Wangerooge.

Widerspruch zwecklos!