Messies unter uns
Als ich vor beinahe 35 Jahren nach dem Erlangen des Zweiten Juristischen Staatsexamens und der Zulassung zur Rechtsanwaltschaft auf die Menschheit los gelassen wurde, hatte ich vom Recht etwas Ahnung, vom menschlichen Verhalten allerdings so wenig Kenntnisse, dass ich - eher naiv - zunächst an die guten Seiten der Artgenossen glaubte. Will heißen: Der Mensch ist grundsätzlich gut, die Gesellschaft und sein Umfeld machen ihn nur schlecht. Wenn er kein guter Mensch mehr ist, weil ihn die anderen Menschen schlecht gemacht haben, benötigt er sodann anwaltliche Hilfe.
Einige Monate nach meiner Zulassung, der Gründung einer Rechtsanwaltssozietät, die ich zusammen mit einem Studienkollegen in Bremen führte, trudelten die ersten Rechtsfälle bei uns ein. Wir hausten in einem ehemaligen Ladenlokal in der Brunnenstraße, die sich im damaligen Szene - Viertel befindet und warteten - hinter billigen " IKEA " - Schreibtischen sitzenden, auf - hoffentlich - zahlungskräftige Mandantschaft. Wir warteten lange, denn die meisten der aufschlageneden Damen und Herren hatten den identischen sozialen Status wie wir; es waren so genannte " Hungerleider ".
Eines Tages tauchte ein Paradiesvogel aus jener Spezies auf, der Rudolf S. hieß. Unser einstiger Ausbilder, von dem wir - finanziert durch eine Kreditaufnahme bei der örtlichen Sparkassen - Filiale " das Anwaltsbüro übernommen hatten, vermittelte das Mandat. Er kannte sowohl den Rechtssuchenden als auch die ihm - dann feindlich - gegenüber stehenden, von diesem geschädigte Dame. Diese war Lehrerin und hatte in einer nahe gelegenen Straße ein sanierungsbedürftiges Haus erworben.
Das sollte nun von dem Mandanten entrümpelt, leicht umgebaut und verschönert werden. Ein prima Plan, denn diese, für die Hansestadt sehr typischen alten Häuser, haben wahrhaftig ein großes Potenzial, um aus einer eher biederen angelegten Aneinanderreihung von Räumen, etwas Peppiges machen zu können.
Rudolf S. gab vor, davon Ahnung zu haben, erhielt deshalb von der - eher lebensfremden - Pädagogin die Hausschlüssel und wühlte danach über Wochen in dem Bremer Altbau richtig herum. Irgendwann kamen der Hauseigentümerin erhebliche Zweifel an der Kompetenz des von ihr Beauftragten. Sie sah, dass Rudolf beinahe sämtliche Fußböden heraus gerissen, diverse Wände abgetragen und im Haus Tonnen weise Schutt sowie Baumaterialien herum lagen. Ein systematischen Arbeitsvorgehen war nicht erkennbar. Rudolf gelang es zwar noch, die misstrauisch gewordene Auftraggeberin für weitere Wochen mit diversen Versprechungen hinzuhalten, doch irgendwann im Frühjahr des Folgejahres forderte sie diesen auf, die Schlüssel abzugeben.
Was danach folgte, war eine ernüchternde Bestandsaufnahme durch einen beauftragten Baugutachter, der zu dem Ergebnis kam, dass Rudolf äußerst unfachmännische Arbeiten durchgeführt hatte und dabei die Haussubstanz weitesgehend zerstört und beschädigt hatte. Es kam zu einem Zivilprozess, in dem er zur Zahlung von Schadenersatz an die Auftraggeberin verurteilt wurde.
Rudolf musste weiter ziehen und hinter ließ in dem Haus der Bremer Lehrerin verbrannte Erde.
Auch im nächsten Objekt, dass er in Osterholz - Scharmbeck über seine bereits hoch betagte Mutter durch Kauf zur Verfügung gestellt bekam, müllte sich Rudolf S. binnen weniger Monate zu. Dieses rief die zuständige Kreisbehörde auf den Plan. Eine eilfertige Mitarbeiterin des Ordnungsamtes inspizierte das eher kleine Hausgrundstück, auf dem unter anderem ein ausrangierter Bauwagen, mehrere Kisten mit Altmetall, eine Gußeisen - Badewanne, ein Holzleiterwagen und sogar ein Holzfass herum standen. Die jüngere Dame bewertete dieses als Abfall im Sinne des Abfallbeseitigungsgesetzes und ließ eine behördliche Verfügung ergehen, in der sie den Eigentümer aufforderte, binnen einer Frist, sämtliche Gegenstände zu beseitigen bzw. auf seine Kosten beseitigen zu lassen.
Ich legte für Rudolf S. wunschgemäß Widerspruch gegen die ergangene Verfügung ein und traf mich später mit der Behörden - Dame auf dem Grundstück des Rudolf S. Weil ich ihn bereits einige Jahre lang kannte, für ihn eine Reihe Rechtsfälle bearbeiten durfte, wusste ich, dass Rudolf S. psychische Probleme hatte. Er kam mit seinem Alltag, mit dem Leben insgesamt und den von Staat und Gesellschaft aufgestellten Normen und Regeln nicht klar.
Rudolf S. bekam irgendwann einen Betreuer ( der hieß auch mal Vormund ) zur Seite gestellt. Der sollte ihm dabei helfen, sein Leben so zu organisieren, dass er sich und anderen keinen weiteren Schaden dabei zufügt. Ein Betreuer kann auch ( je nach dem ihm durch ein Gericht zugewiesenen Aufgaben / Betreuungskreis ) für die finanziellen Seiten des unter seine Fittiche Gestellten verantwortlich sein. Eine derartige, gerichtliche Zuweisung mag in vielen Fällen sinnvoll sein; sie kann aber auch genau das Gegenteil von dem bewirken und zum Nachteil des Betreuten ( früher auch Mündel bezeichnet ) führen.
Viele Wochen nachdem für Rudolf S. ein Betreuer bestellt worden war, rief er mich in meinem Büro in Bremen - Hastedt an und bat mich - fast flehentlich - ihn in seinem inzwischen vollkommen veränderten Häuschen bei Osterholz - Scharmbeck aufzusuchen. Er habe große Probleme mit dem ihm gerichtlich bestellten Betreuer; einem damals in Osterholz - Scharmbeck tätigen Kollegen. Er bemerkte dabei noch, dass es wirklich dringend sei.
Nach einigem Zögern und geäußerten bedenken, schlug meine ( im heutigen Vokabular der Neo - Faschisten als " Gutmenschentum " diffamiert ) soziales Gewissen sämtliche Vorbehalte dazu über Bord und ich vereinbarte mit Rudolf S. einen Termin in seinem Haus.
Als ich die mir jetzt bekannte Adresse mit dem Auto erreichte, traute ich meinen Augen nicht. Das gesamte Grundstück war noch weiter zugemüllt. Überall befanden sich Baumaterialien, die schwere Gußeisen - Badewanne hatte inzwischen eine herstellungskonforme Funktion erhalten, denn am Rand der von mir aus besehenen Stirnseite befand sich ein eigenwillig konstruiertes Gestell mit einem Brauseschlauch, eine Handbrause aus Plaste und eine Art Armatur, die zu einem Kessel artigen Gebilde führte. Dort war eine, über einen Dieselmotor betriebene Pumpe angeschlossen. Das durchaus funktionierte Gebilde stellte eine Freiluft - Duschgelegenheit dar. Nun, ich war durchaus beeindruckt.
Meine Blicke schweiften über das Bauchnabel hoch wachsende Grün, in dem allerlei Wildblumen, darunter Mohn und Löwenzahn, diverse Kräuter sowie auch Korn wuchsen. Ein Paradies für Insekten, vor allem Bienen, zeigte sich vor meinen Augen. Die auf Ökologie basierende Lebensweise fand sich hier voll umfänglich und uneingeschränkt wieder.
Als ich zu dem Häuschen gelangte, fiel mir sofort auf, dass die Eingangstür fehlte. Die Fenster, des eher als Kate zu bezeichnenden Gebäudes, waren heraus genommen worden. Statt ihrer war Folien über die Laibung gespannt, die im leichten Wind ein typische flatterndes Dauergeräusch verursachte. Ansonsten herrschte Ruhe. Beinahe wie auf einem Friedhof, den ich früher ab und an während der Nachtstunden zum Pinkeln oder später außerhalb der vorgeschriebenen Öffnungs - und Besuchszeiten aufgesucht hatte.
Ich klopfte höflich an dem Türrahmen und rief nach dem Namen des hier Hausenden. Nach dem dritten, vierten Mal, krachte und polterte es im oberen Bereich des Gebäudes. Ich wartete an dem offenen Eingangsbereich. Dann erschien - mit einem noch reichlich verschlafenen Gesicht, die längeren Wuschelkopfhaare ungekämmt und nur spärlich bekleidet - der Bewohner des Objekts und begrüsste mich. Er bat mich herein. Im Augenwinkel huschte eine weibliche person, halb entkleidet, in Richtung eines weiteren Raumes und verschwand darin. Rudolf S. hatte also Damenbesuch. Dieses war nicht nur der Grund für sein noch wilder und nicht dem modischen Stil der 1990er Jahre entsprechendes Aussehen.
Wir setzten uns in einen Raum, den er wohl zur Küche mit Essmöglichkeit eingerichtet hatte. Es sah dort ebenso wüst aus, wie ich es draußen vor dem Haus sehen konnte. Zudem aber, waren der Fußboden aufgerissen und das Fachwerk freigelegt worden. Na, ja, es ist nun mal kein Bungalow, dachte ich wohl. Dann kamen wir zur Sache. Rudolf S. wollte seinen Betreuer los werden. Er hatte, bei all seiner chaotischen Lebensführung, ein durchaus feines Gefühl dafür, dass mit dem Herrn Kollegen etwas nicht stimmte. Deshalb unterschrieb er mir eine Vollmacht.
Am folgenden Tag legte ich los. Ich stellte einen Antrag auf Aufhebung der Betreuung und begründete diesen damit, dass Rudolf S. längst wieder in der Lage gewesen sei, seine persönlichen Angelegenheiten eigenverantwortlich zu regeln. Das stellte zwar eine sehr kühne Behauptung dar und auch der Aufhebungsantrag erschien angesichts der wahren Lebensumstände des Rudolf S. sehr ambitioniert, doch ich kannte die Vorschriften und die Denkweisen der Richter ein wenig. Der Grundsatz hieß und heißt auch heute noch: Möglichst wenig Staat sowie vor allem staatliche Eingriffe in die Individualgrundrechte.
Es kam zu einer Anhörung bei einem Richter des Amtsgerichts Osterholz - Scharmbeck. Der entschied - nicht unbedingt überraschend -, dass die Betreuung aufgehoben wird. Rudolf S. war wieder ein vollkommen freier Mann.
Einige Zeit später las ich in der Regionalzeitung, dass gegen den ehemaligen Betreuer des Rudolf S. staatsanwaltliche Ermittlungen wegen des Verdachts der Untreue, des Betrugs usw. aufgenommen worden seien. Eine ehemalige Betreuerin des DRK hatte gegen diesen Strafanzeige gestellt. Der werte Herr Kollege sollte ihm übertragene Gelder und Vermögenswerte in einem größeren Umfang zweckentfremdet, für sich selbst ausgegeben und dazu falsche Abrechnungen erstellt haben. Er wurde später zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. Zudem entzog die zuständige Rechtsanwaltskammer in Celle seine Zulassung.
Rudolf S. zog später zurück zu seiner in Bremen - Vegesack lebenden Mutter sowie Schwester. Das vollkommen vermüllte Grundstück wurde wieder verkauft. Ich sah Rudolf S. danach nie wieder.
Bei Schreiben dieses Blogs, kam mir die Idee, im Netz nach dem Klarnamen des einstigen Mandanten zu recherchieren. Mit dem Ergebnis, dass dieser mutmaßlich vor mehr als 9 Jahren in Bremen verstorben sein könnte.
Auf der geschalteten Traueranzeige findet sich das chinesische Symbol des " Yin und Yang ". Eine Definition hierzu geht davon aus, dass eine Beziehung zu einer oder mehrere gegensätzlich wirkenden Kräfte damit gemeint wird. Aber auch die Darstellung der Einheitlichkeit von Körper und Seele wird hieraus abgeleitet. Was allerdings nicht ausschließt, dass der Körper eines Menschen auch das Sinnbild der Seele ergibt. Hieraus wird die im asiatischen Raum gebräuchliche Lebensweisheit entsprungen sein, wonach ein kranker Geist, eine geschundene Seele, auch in einem gesunden Körper weiter leben kann.
Zirka eine Dekade später erzählte ich meiner besseren Hälfte von dem Fall des Rudolf S. Bereits nach kurzer Zeit erkannten wir frappierende Parallelen zu einem ehemaligen Bekannten von ihr.
Auch er - er heißt ebenfalls Rudolf und besitzt die identischen Initialen - weist ähnliche Handlungsmuster auf. Er lebte zunächst auf einem Drei - Seitenhof im thüringischen Nausnitz. Dort versuchte er das Gebäude zu sanieren. Er entfernte die Fußböden in sämtlichen Zimmern, installierte eine Holzheizung, die perfekt funktionierte und veränderte einige Dinge an der Außenanlage. Die uralten Übergardinen aus DDR - Zeiten ließ er jedoch die ganzen Jahre über ungewaschen hängen. Obwohl sämtliche Räume eher einer Dauerbaustelle ähnelten, achtete Rudof S. darauf, dass seine Essteller akkurat, also Millimeter genau in dem Schrank standen. Ein solcher, den er zuvor bei " IKEA " gekauft hatte, wies andererseits seit Jahren eine fehlende Tür auf. Diese hatte er bei dem Möbelhersteller - obwohl zuvor natürlich bezahlt - nie nachliefern lassen, weil es ihm nicht wichtig erschien.
Die widersprüchliche Lebensweise äußerte sich aber auch auf anderen Lebensfeldern. Rudolf S. war bindungsunfähig. Sobald eine Bekannte ihm zu sehr auf eine Zukunftsplanung hin leiten wollte, wechselte er sie wie ein Hemd wieder aus. Sein Damen - Portfolio war somit üppig ausgelegt. Von jeder Bekanntschaft fertigte er wahre Bilderfluten an, die er dann archivierte und über die er über eine Bildschirmanheftung sofortigen Zugriff hatte. Er sammelte und sammelte somit und wurde dabei älter.
Nach einigen Jahre verließ er den thüringischen Ort und wohnte dann mehrere Jahre im sächsischen Ort Naunhof bei Leipzig. Auch dort wohnte und lebte er unter den zuvor bekannten Bedingungen. Als er vor mehr als 10 Jahren das ältere Haus verließ, fanden die Eigentümer ebenfalls verbrannte Erde vor. Rudolf S. hatte sich auch dort mit Baumaterialien und halb fertigten Arbeiten für immer verabschiedet. Er zog nach Baden - Württemberg, wo er eine auf zwei Jahre befristete Stelle annahm. Dann verschlug es ihn nach Alt Rehse, einem Stadtteil von Penzlin in Mecklenburg - Vorpommern.
Hierbei ging er einem Brüderpaar aus Bayern auf den Leim, die ein betrügerisches Wohnparkkonzept anboten, das auf einer windiges Finanzierungvariante fußte und einige Jahre später in die Brüche ging.
Bei all unseren Gesprächen über jenes augenscheinlich krankhafte Verhalten der beiden Rudolfs, kamen wir schließlich immer wieder zu der identischen Bewertung. Beide Männer waren Messies oder zeigten in ihrer Lebensweise sehr strake, dazu hinführende Ähnlichkeiten.
Das so genannte Messie - Syndrom ist sehr viel schichtig. Es verzeichnet deshalb unterschiedliche Ausprägungen. Ebenso differenziert sind die Ursachen für jene Erkrankung des " Sich - Zumüllens ". Diese - wohl eher - Zivilisationskrankheit, kommt zudem in sämtlichen gesellschaftlichen Schichten vor.
https://de.wikipedia.org/wiki/Messie-Syndrom
Als ich vor einigen Tagen von unserem einstigen Nachbarn einen Telefonanruf erhielt, erzählte mir dieser, dass die Käufer des vormaligen Wohnhauses in Dresden mehr oder weniger identische Auffälligkeiten erkennen lassen. Auf dem Grundstück liegt seit mehr als einem Jahr Bauschutt, eine altere Duschwanne und die begonnen Sanierungsarbeiten sind offensichtlich nicht zu Ende geführt worden. Zudem befindet sich in der einst aufgeräumten Garage bis unter die Decke liegender Müll.
Auch ein Anzeichen eines Messie - Syndroms???
TUCKER ZIMMERMAN - Brother John - Square Dance - 1980:
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