Schlüssel stecken lassen?

 Es ist Freitagmorgen gegen 06.20 Uhr. Die Sonne steigt langsam im Osten auf und wird bald, die längst wieder vom Regen, von dem Staub der nahe gelegenen Baustelle und den Fliegenschissen verschmutzten Fensterscheiben bescheinen. Dann müsste ich die Jalousien herunter lassen. Doch: Noch ist es nicht so weit. Über den aufgeklappten Fensterflügel dringen die ersten Geräusche der fort fahrenden PKW, die ihren Fahrer zur Arbeit bringen sollen, in die Küche hinein. Im Hintergrund säuselt das Radio die tagesaktuellen Nachrichten. Es geht um " Corona ", die Flut in Nordrhein - Westfalen und Rheinland - Pfalz sowie um regionale Ereignisse .

Bei dem obligatorischen Pott Kaffee aus dem Automaten und der " SPIEGEL " - Lektüre auf dem Tisch wartete ich - wie immer als Frühaufsteher - auf den anbrechenden Tag. Während ich so vor mich hin las, vernahm ich ein rollendes Geräusch. Es war jenes, das ich bereits tausendfach auf  Flughäfen, Bahnhöfen oder vor Hotels vernahm, wenn Gäste ihre mit geführten Habseligkeiten weiter transportieren.


Dieses Rollen kam näher und endete am gegenüberliegenden Haus. Die Tochter und Enkeltochter der dort lebenden Familie stand vor der Eingangstür. Sie hat - mutmaßlich - vor einigen Wochen das Abitur abgelegt und flog danach mit einer Freundin oder Schulkollegin in den Urlaub. Jetzt kam sie erneut von einer Reise wieder.

Sie hatte ihren Rollkoffer auf die Treppenstufe vor der Haustür gestellt und zog ihren Schlüssel aus der Tasche. Das beabsichtigte Öffnen der Haustür scheiterte jedoch. Warum auch immer ( ich vermutete, dass ein weiterer Schlüssel von innen steckte ), die Haustür ließ sich nicht aufschließen. Die Ausgesperrte steckte ihren Schlüssel wieder in ihre Tasche und klingelte.

Als sich nach einer kurzen Zeit jedoch nichts tat, versuchte sie es erneut. Wieder ereignete sich nichts.Sie versuchte es ein drittes und ein viertes Mal. Wider nichts! Sie holte ihr smart-phone aus der Tasche und tippte darauf herum. Offensichtlich rief sie ihre Mutter an. Wieder kam keine Reaktion. Sie klingelte erneut und rief gleichzeitig an. Inzwischen waren bestimmt 10 Minuten vergangen. Die junge Nachbarin tat mir jetzt schon ein wenig leid.

Nach einer weiteren Zeit des Wartens, in der sie erneut geklingelt und telefoniert hatte, öffnete sich endlich die Haustür. Der Lebensgefährte der Mutter stand vor ihr und ließ sie hinein. Den Dialog zwischen den beiden Nachbarn konnte ich nicht hören, jedoch erkannte ich deutlich, dass die Ausgesperrte genervt aussah. Dann ging die Tür wieder zu.

Während ich mir bei dem Geschehen vor dem nachbarlichen Haus die Frage stellte, warum die Mutter nicht aufgestanden war und weshalb der Haustürschlüssel von innen stecken konnte, erinnerte ich mich an einen Tag während meiner eigenen Schulzeit. Meine beiden Geschwister und ich waren so genannte Schlüsselkinder, weil beide Elternteile malochen gingen.

An einem jener Schultag im Frühjahr der späten 1960er Jahre hatte ich tatsächlich meinen Haustürschlüssel vergessen. Dieser lag auf dem Tisch in meinem Zimmer. Als ich vor der Tür stand und vergeblich in meiner Hose nach dem begehrten Objekt herum suchte, war sofort klar: In das Haus komme ich nicht hinein. Es war eben ein " Schlüsselerlebnis ", wie es unzählige Male vor mir und nach mir ständig vorkommt, wenn das für einen Zugang erforderliche Metall - Utensil vergessen, verloren oder verlegt wird.

In nicht wenigen solcher Fälle kann dieses menschliche versagen richtig teuer werden, dann nämlich, wenn ein so genannter Schlüsseldienst die Hilfestellung anbietet oder ausgeübt hat. Da werden sogar astronomische Summen für eine solche Dienstleistung aufgerufen. 300, 400, 500 Euro sind keine Seltenheit. Die Medien berichten über derartige Abzocker, die aus der Notlage eines Menschen, dank entwickelter krimineller Energie, viel Geld herausschlagen.

Jene gewerbsmäßig agierenden Betrüger unter den vielen Anbietern nötigen dann den Hilfesuchenden, die völlig übersetzten Rechnung sofort, möglichst in bar, auszugleichen. Ist das Geld erst einmal bezahlt worden, wird es schwierig, gegen jene Halunken gerichtlich vorzugehen. Die Mehrzahl der Betroffenen verzichtete auf diesen Schritt, zahlt, meckert vielleicht noch über die Medien herum und vergisst die sündhaft teure Schusseligkeit wieder. 

Ein solcher Einsatz blieb der jungen Nachbarin erspart. 

Sie entschwand nach kurzer zeit im Flur des Hauses. Der Lebensgefährte ihrer Mutter zog dann die Tür hinter ihr zu. Ich warf jetzt die Frage auf, ob es an der fehlenden Absprache innerhalb der Familie lag, dass die Reiserückkehrerin  nicht mehr in ihr Quartier kam?

Einst quälte uns unsere Mutter mit der täglich aufgeworfenen Frage, ob wir unseren Schlüssel auch eingesteckt hätten. Ja, hatten wir, natürlich hatte ich ihn eingesteckt. Fast immer. Nur an jenem Tag nicht. Weil mein Haustürschlüssel oben im Zimmer lag, kam ich nicht in das Haus hinein. Ich überlegte, wie ich das ändern könnte. Durch ein Kellerfenster war es an diesem Tag nicht möglich, denn die waren vormals längst vergittert. Ich hätte deshalb Werkzeug aus dem Schuppen holen müssen, um das Eisengitter abzuschrauben und in ein möglicherweise halb offen stehendes Fenster einzusteigen. Doch der Schuppen war ebenfalls abgeschlossen, auch stand kein Kellerfenster offen. Ebenso wenig hätte ich das einfache Türschloss des Schuppens mit einem umgebogenen Metallteil, wie beispielsweise ein Eisen - Henkel eines Plasteeimers, öffnen können. Diese Eimer standen allesamt im abgeschlossenen Schuppen.

Sämtliche bekannten und nicht selten erfolgreich angewandten Tricks, Kniffe und Hilfsmittel, um hiermit in das abgeschlossene Haus zu gelangen, hätten an jenem Tag nichts genützt. Es war, als müsse ich eine " Gordischen Knoten " lösen. Schon leicht frustriert sah ich in Richtung des Hausdachs. In der dort zur Straßenseite eingebauten Gaube lag das Badezimmer. Meine Eltern hatten es noch vor dem Tod der oben wohnenden Großeltern zu Beginn der 1970er Jahre nachträglich einbauen lassen. Hier stand das Fenster halb offen. Es wurde ständig in der Klappstellung belassen, weil es im Bad durch den hier verlaufenen Abfluss immer ein wenig streng roch.

Mir schoss eine Idee durch den Kopf. Ich könnte versuchen, über die linksseitig an dem Erker des Hauses installierte Dachrinne und die parallel dazu verlaufende Blitzableiter auf den Dachvorsprung des Erkers zu gelangen und von dort das angeklappte Fenster zu öffnen. Ich verließ den mit Gehwegplatten versehenen Hauseingangsbereich und betrat das linksseitige Beet, auf dem sich in der Erkerecke ein großer Zierstrauch befand, der die bereits in die Jahre gekommenen, nachträglich mit schwarzer Lackfarbe angestrichene Fallrohr -  Konstruktion aus Zink verdecken sollte. Nachdem ich mich durch das Gestrüpp gekämpft hatte, trat ich mit dem rechten Fuß aus die in die Außenwand eingelassene Rohrschelle, die stabil genug war, um mein Gewicht zu halten. Dann hangelte ich mich an dem Zinkfallrohr hoch und hielt mich gleichzeitig an dem Blitzanleiter, der mittels Halteschellen in der Wand montiert worden war, fest. 

Es gelang mir tatsächlich, die Dachrinne zu erreichen. Dort stellte ich einen Fuß hinein und erhielt dadurch genügenden Halt, um mich auf die Dachziegel knien zu können. Mit der linken Hand zog ich mich an dem Fensterrahmen hoch und konnte so in leicht gebückter Haltung mit rechts in das halb geöffnete Fenster hinein greifen. Da ich die Funktionsweise des einst gängigen Drehkippbeschlages noch aus der Lehrzeit bestens kannte, hatte ich sofort den Kipphebel erreicht, den ich nach oben drückte. Das Badezimmerfenster öffnete sich langsam. Vorsichtig zog ich meine Hand wieder aus dem Fensterrahmen. Ich schob das Sprossenfenster leicht nach links in den Raum hinein und stieg zuerst mit dem rechten Fuß auf die Fensterlaibung. Das war´s schon. Ich war im Badezimmer. Ein kleiner Sprung nach unten und ich hatte das Haus auch ohne Schlüssel betreten.

Mein erhöhter Puls beruhigte sich wieder. Ich war erleichtert, denn sonst hätte ich mindestens 6 Stunden bis zum Eintreffen meiner Eltern warten müssen. 

Schlüssel vergessen? Das war für mich damals kein Thema. Schlüssel stecken lassen? In diesem Fall auch nicht. 

   


WOLFGANG RIECHMANN  -  Abendlicht  -  Wunderbar  -  1978:




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