" Bis zum nächsten Jahr, Frau W.! "
Wir schreiben die Endsiebziger Jahre. In Westdeutschland brummt der Konjunkturmotor wieder. Die so genannte Ölkrise schien zum überwiegenden Teil überwunden. Was hieraus verblieb, waren wesentlich höhere Öl - und Benzinpreise und damit verbunden gestiegene Lebenshaltungskosten. Diese konnten indes über kontinuierlich angehobene Löhne - und Gehälter bei der breiten Bevölkerung abgefangen werden. Der Wachstumsgarant, die deutsche Autoindustrie, war hierfür eine tragende Säule. VW, BMW, Mercedes, gelang es dank einer ständig wechselnden Modellpalette die Verkaufszahlen nicht nur im Inland zu steigern.
Insbesondere die Volkswagen AG in Wolfsburg mitsamt ihren Zulieferbetrieben glänzte durch immer neu Verkaufsrekorde. Den dortigen Bandarbeiter ging es - gemessen an den anderen Werktätigen - nahezu glänzend. Die starken Gewerkschaften handelten dort beinahe paradiesische Tarifverträge aus. Dazu gehörten fast einmalige Sozialleistungen. Und die sahen unter anderen vor, dass ein Malocher am Fließband, also der Fertigung sowie in den Werksumfeldern ab einem bestimmten Lebensalter und gekoppelt mit der Werkszugehörigkeit, einen Anspruch auf eine minderst dreiwöchige Kur hatte. Dieses zeitweise sogar jährlich.
Nicht nur davon partizipierte auch das staatlich anerkannte Kur - und Heilbad Bad Eilsen ( https://de.wikipedia.org/wiki/Bad_Eilsen . In jenen Zeiten mit ihm, auch die dortigen Einwohner. Die Samtgemeinde Eilsen prosperierte in jenen Jahren. Von den sprudelnden Steuereinnahmen konnten die bis dato maroden öffentlichen Anlagen und Gebäude saniert werden, Neubauten entstanden, die Einwohnerzahl stieg beharrlich an. Mit der Anerkennung als " Staatliches Heilbad " wurden über die Landesversicherungsanstalten Berlin sowie Hannover Kureinrichtungen erbaut und erneuert, die später einigen Tausend Gästen oder Patienten über dort verabreichte Anwendungen zur Genesung verhelfen sollten. Die Kosten hierfür trugen die jeweiligen Rentenkassen.
Aber nicht nur die Samtgemeinde Eilsen oder Bad Eilsen als Teilgemeinde partizipierten von dieser Entwicklung. Auch Teile der Bevölkerung erhielten hierdurch entsprechende Vorteile. Vor allem jene, die über Grundeigentum verfügten. So mancher baute flugs den dort vorhandenen Wohnraum in Fremdenzimmer um.
So auch meine Eltern.
Als sie im Mai 1952 heirateten und kurz danach ein Grundstück in Heeßen erwarben, auf dem sie ein Haus bauen durften, waren die Wohnverhältnisse in den Folgejahren mehr als beengt. Zumal drei Kinder folgten. Eine Zeit lang lebten und wohnten in dem Haus 9 Personen ( 6 Erwachsene, davon meine Großelter, ein obdachloses Flüchtlingspaar und wir drei Kleinkinder ).
Nach und nach entspannte sich die Wohnsituation. Das Flüchtlingspaar zog später in eine eigene Wohnung, meine Großeltern verstarben in den frühen 1970er Jahren, meine Schwester und mein Bruder zogen aus. Die leeren, einstigen Kinderzimmer ließen meine Eltern nach und nach umbauen. Hieraus wurden Fremdenzimmer, die an Angehörige von Kurgästen vermieten werden konnten. Das Geschäftsmodel boomte, denn meine Mutter befand sich direkt an einer Quelle von der aus sie ohne große Mühe neue Pensionsgäste akquirieren konnte. Sie war als Servierkraft bei der LVA in Bad Eilsen im ständigen Kontakt mit neuen Kurgästen, die für ihre Angehörige eine günstige Unterkunft suchten.
Die ganze Chose verlief selbstverständlich steuerfrei. Dem Finanzamt in Stadthagen wurde die lukrativen Nebeneinkünfte nicht angezeigt. Somit konnte dieses auch keine Einkommenssteuer aus Vermietung und Verpachtung erheben. Nicht nur dadurch erhöhte sich der Lebensstandard, der über mehrfache Auslandsurlaube, nicht gerade günstige Einrichtung und hochpreisige PKW zum Ausdruck kam. Dass auch wir als längst erwachsene Kinder davon partizipierten, möchte ich allerdings nicht unerwähnt lassen.
In jener Zeit versiegte der Strom an Kurgästen und damit die dritte oder gar vierte Einkommensquelle nie. Auch die Nachbarschaft profitierte von dieser Form des Nebenerwerbs. Diese - für damalige Verhältnisse - beinahe unglaublichen Geldzuflüsse waren vor allem aber dadurch möglich, dass so mancher VW - Bandarbeiter fast jedes Jahr eine Kur verschrieben bekam und damit auch seine Angehörigen für eine bestimmte Zeit lang folgen ließ. Die wohnten überwiegend in wesentlich billigeren Privatunterkünften.
Meine Eltern boten deshalb vier, manchmal sogar fünf ( ein Kellerraum konnte als zusätzlicher Wohnraum ausgebaut werden ) Zimmer an. Dieses Geschäftsmodel zeigte sich zusehends als wahre Goldgrube. In den Boomjahren spülte die " Zimmervermietung W. " bis zu 35.000 DM ( auf den derzeitigen Geldwert umgerechnet wären das zwischen 52.000 Euro bis 48.000 Euro ). Damit konnte ein volles Arbeitseinkommen generiert werden.
Was für die eine Seite, nämlich die Malocher am VW - Band ein zweiter oder dritter Urlaub war, entwickelte sich für eine Reihe von Bewohnern, jene die Fremdenzimmer vermieteten, als warmer Geldsegen. Mit der Kohl - Regierung versiegte dann der durchaus üppige Geldzufluss. Die angebliche Rentenreform, für die der westdeutsche Bundessozialminister Norbert Blüm verantwortlich zeichnete, verbannte die kostenlosen Kuren aus dem Katalog des Sozialgesetzbuches / SGB ), da es sich vermeintlich um sachfremde Leistungen handele.
Das war dann ab 1986 der Todesstoß für viele Kureinrichtungen in Bad Eilsen. Die Zahl der Patienten und Gäste nahm sukzessive ab. Viele Kurbetriebsteilen, sowie Geschäfte mussten schließen, Hunderte verloren ihre Arbeit, das Ende der goldenen Ära der privaten Fremdenzimmervermietung endete.
Zurück blieben auch für mich Erinnerungen, wie ein prägnanter Satz eines VW - Arbeiters, den der gegenüber meiner Mutter in großkotziger Weise mit " Bis zum nächsten Jahr, Frau W.! " aussprach und damit das Dilemma jener Zeit skizzierte. Viele lebten auf Kosten und zu Lasten der Folgengenerationen. Wie heutzutage auch weiterhin.
STATUS QUO - She Fly - Ma Kelly´s Crazy Spoon - 1970:
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