Der Schneemann kommt!



Am Montag dieser Woche stand wieder der Tageseinkauf bei " Netto " auf dem Plan. Diesen erledige ich häufiger zwischen 14.00 und 15.00 Uhr. Dann sind die vielen Kunden aus den umliegenden Geschäften, die sich mal schnell ihr Mittagsessen holen, längst wieder an ihren Arbeitsplatz. Der Einkauf verläuft somit eher entspannter. So nahm ich meinen schwarzen Leinenbeutel, die Geldbörse und ein Schlüsselbund, zog meine Stiefel an, legte mir einen Schal um den Hals, schloss die Winterjacke bis oben hin zu und verließ das Haus.

Auf dem Weg zur Tharandter Straße kam ich - wie immer - an einem Wohnblock vorbei, der sich an der Kreuzung der Wiesbadener und der Dölzschener Straße befindet. Auf dem schneebedeckten Rasen hatten Bewohner des Mietshauses einen Schneemann gebaut. Er sah lustig aus und seine Machart zeugte von einem gewissen Geschick im Umgang mit Formen.
Ich sah mir den gefrorenen Kameraden ein wenig genauer an und hätte ihn gerne fotografiert. Doch leider lag mein Handy zuhause  auf dem Schreibtisch. Na, gut, dann vielleicht ein anders Mal, dachte ich so bei mir und stiefelte weiter auf dem abgestreuten Gehweg in Richtung des Supermarktes.






Tja, heute habe ich den lustigen Freund aus fest festgeklopften Schnee auf den Chip meines Handy archivieren können. Als ich da so an dem Metallzaun stand und die Fotos knipste, erinnerte ich mich an jene Tage von vor etwa 30 Jahren. Es war Anfang Februar 1987. Eigentlich wäre der Winter, der oft in Norddeutschland, somit auch in Bremen, eher keiner ist, längst vorbei gewesen. Doch dann schob sich eine Kaltwetterfront über den Norden Westdeutschlands und ließ ordentlich Schnee auf den flachen Gebieten Niedersachsens, Bremens, Hamburgs und Schleswig - Holsteins hernieder rieseln. Aber auch einige Teil Nordrhein - Westfalens waren von dem plötzlichen Wintereinbruch betroffen. Es wurde sehr kalt, weshalb die Schneemassen auch liegen blieben.

Ich hatte vor einigen Wochen mein Jurastudium an der Uni Bremen abgeschlossen, war als Rechtsanwalt dort vor dem Landgericht vereidigt worden und richtete mir mit meinem Kollegen in der Brunnenstraße 5 ein Büro ein. Dazu mussten wir einen Kredit aufnehmen. Es waren zirka 30.000 DM, die uns die Bremer Sparkasse für die Existenzgründung bewilligte. Davon besorgten wir uns, unter anderen bei Möbel Meyerhoff in Osterholz - Scharmbeck, einen Teil des Mobiliars. Wir renovierten die beiden Räume, besorgten uns auch die Berufskleidung, nämlich die schwarzen Roben und jede Menge Büromaterial. Nach einigen Tagen war das Büro eingerichtet. Die gesamte Chose kostete vielleicht 5.000 DM. Da wir 22.000 DM als Abstandszahlung an die beiden Vorgänger des Rechtsanwaltsbüros zu zahlen hatten, blieben nur noch knappe 3.000 DM übrig. Das war zum Leben zu wenig und zum Sterben zu viel.

Wir meldeten uns deshalb beim einstigen Arbeitsamt und erhielten Arbeitslosenhilfe, so wie andere unserer Mitstreiter auch. Davon konnte jeder von uns zwar seine persönlichen Kosten so gerade eben bestreiten, allerdings waren Urlaub, Reisen oder sonstiger Luxus damit natürlich nicht bezahlbar.

Ich erhielt deshalb eine Einladung zu einer Norwegenreise, die ich mit meinen Eltern knapp 1, 5 Jahre später mit einem Wohnmobil vornehmen würde.

Zwei Jahre zuvor , nämlich im März 1985 flog ich mit ihnen nach Thailand. Wir wohnten dort in einem Ressort in Pattaya, einem einstigen Fischerort, der längst in Verruf geraten war. Angeblich sollte es einst der " größte Puff der Welt " gewesen sein. Nun, ja, davon bekamen wir nicht so sehr viel mit. Es sei denn, wir wagten uns aus der Hotelanlage in den Ort, um dort die köstlichen Meeresspezialitäten zu verspeisen.

Zuvor allerdings waren einige wichtige Formalitäten zu erledigen. Ich benötigte einen neuen Reisepass, der damals - so meine Erinnerungen - noch kostenlos ausgestellt wurde. Mein alter Pass wurde nicht mehr verlängert. Dort befand sich ein Passbild, auf dem ich noch schulterlange Haare trug. Diese hatte ich mir inzwischen radikal kürzen lassen. Der Angestellte der Samtgemeinde Bad Eilsen machte deshalb Spukus und verweigerte die Verlängerung des Reisepasses.
Dann benötigte ich einen Impfausweis, in dem die erforderlichen Impfungen gegen diverse Infektionskrankheiten oder auch Tropenkrankheiten, wie Typhus, Malaria und andere, einzutragen waren. Ich hatte zuvor das Tropeninstitut in Hamburg angeschrieben und mir eine schriftliche Aufstellung über die Pflichtimpfungen geben lassen. Weil mit schon allein das Reiseziele Thailand peinlich war, betonte ich in diesem Anschreiben, dass es sich nur um eine Urlaubsreise handele.

Zudem waren einiges an Sommerbekleidung erforderlich. Diese hatte ich mir allerdings bereits ein halbes Jahr zuvor besorgt. Wer Kleidung für die heißen Tage benötigte, der musste damals diese auch im Sommer, spätestens zum Sommerschlussverkauf besorgen, sonst würde dieser Wunsch nur schwer zu erfüllen gewesen sein.

Komplizierter erschienen mir aber eher die Pflichtschutzimpfungen. Ich hatte - bis auf mein Gesundheitszeugnis, dass ich von einer Amtsärztin in Bremen ausgestellt bekam, sonst nie einen Arzt benötigt. Woher also nehmen? So rief ich dann in jenem Februar des Jahres 1985 eine Ärztin mit dem Namen Jansen, die in der Humboldtstraße ihre Praxis unterhielt an und ließ mir einen Termin geben. Es war der 11. Februar 1985 um 8.00 Uhr.

Als ich so gegen 7.30 Uhr von der Universität los fuhr, lag bereits knöchelhoher Schnee. In der Nacht hatte es heftig zu schneien begonnen. Die Räumdienste kamen mit ihrer Arbeit kaum hinterher. So schlich ich durch das Schneegestöber die Universitätsallee entlang in Richtung des " Stern " und von dort in Richtung " Am Dobben ". Nachdem ich dort - eher zufällig - einen Parkplatz ergattern konnte, lief ich die restlichen, zirka 300 Meter bis zu der Arztpraxis zu Fuß. Das hätte ich lieber nicht getan, denn nach dem kurzen Weg sah ich wie ein Schneemann aus. Es flockte derart stark, dass ich kaum 5 Meter weit sehen konnte. Endlich war ich an der Arztpraxis angelangt. Ich öffnete die Eingangstür des typischen Bremer Wohnhauses und klingelte an der Praxistür. Ich versuchte den Schnee ein wenig aus meiner dicken Felljacke zu schlagen. Es gelang mir mit nur mäßigem Erfolg.

Und just diese Schlamperei, diese Ungeheuerlichkeit, diese Freveltat, war der Anlass für einen barschen Rüffel, den ich mir von der Sprechstundenhilfe dafür einfing. Kaum ertönte der Summer, hatte ich den Türknopf kräftig nach innen gedrückt, stand ich mitten in dem Vorzimmer der Praxis. Die Sprechstundenhilfe, eine mir leidlich geläufige Mittfünfzigerin mit dem ihrem typischen Bremer Dialekt, der den " ssspiiitzen Ssstein ssstössen lässt ", glotzte mich wie ein kaputtes Auto an. Ich merkte, dass sie einen weniger als gebrauchten Montagmorgen mit gebracht hatte, Gut,ja, gut, ich sach´ma´jetzt: Solche Blauen Montage gehören und gehörten auch damals zu meinem Lebensinhalt. Mich kotzten sie vor allem während der Lehrzeit an. Ob ich da nun zur Berufsschule musste oder in den Ausbildungsbetrieb Herm. Altenburg KG nach Bückeburg. Dat war egal. Montag war schon immer ein schlimmer Wochentag, weil Wochenanfang und damit das definitive Ende des Wochenendes. Ein hässlicher Tag, eben.

Jetzt saß diese Schnepfe also hinter ihren weißen Tresen, in einer auch ansonsten ganz in weiß eingerichteten Arztpraxis und stierte mich mit einem, beinahe bohrenden, Blick an, als wollte sie mir die Frage stellen: " Was willst Du hier? Was erlaubst Du Dir, mich an einem Montag, einem scheiß Montagmorgen, bei meiner Arbeit zu stören? " Sie tat sofort ein wenig beschäftigt und kritzelte irgendetwas hinter dem brusthohen, natürlich in dem typischen Weißton gehaltenen, Tresen. Ich schloss zügig die Tür,  ging ich ein oder zwei Schritte in den Raum und erklärte ihr zeitgleich: " Der Schneemann kommt!"

Das hätte ich lieber nicht gesagt. Noch ehe ich meine voll geschneite Winterjacke mit Pelzbesatz, Marke " Hippie ´69 ff " überhaupt aufknöpfen konnte, ranzte mich die Frustrierte sofort an: " Hängen Sie die bloß schnell an den Haken da! "
" Aber, klar doch, sofort!", antwortete ich ihr in einem lauten Kasernenhofton eines Befehlsempfängers.
Danach ging ich zu ihrem Tresen und stellte mich kurz vor. " Ich habe um 8.00 Uhr einen Termin hier!"
" Ja, Sie dürfen da drüben Platz nehmen!", schnarrte sie ihre Antwort heraus.
Ich setzte mich in das Wartezimmer und zwar so, dass ich den Feldwebel in weißer Dienstkleidung im Blickfeld hatte.

Die Sprechstundenhilfe war eine eher kleine Frau, die ich - wie gesagt - auf Mitte Fünfzig schätzte. Sie trug kurze schwarze Haare, die ein wenig glänzten. Vielleicht hatte sie diese mittels " Wella Form " in die richtige Fasson gebracht ( Dat " Drei - Wetter - Taft " gab es damals leider noch nicht ). Ihre Hakennase ähnelte die eines Geierschnabels. Das Gesicht war eher kantig, denn feminin. Als rundherum: Eine unangenehme, eine völlig unattraktive Frau. Es mag sein, dass sie alleinstehend oder gar Witwe war. Vom Alter her, hätte Letzteres zutreffen können. Nun, ja, der Anblick des Arztpraxen - Feldwebels verblieb mir nur kurze Zeit, an jenem Blauen Montagmorgen in Bremen. Dann rief mich die Ärztin zu sich herein.

Frau J. war wesentlich jünger als die Granne im Vorzimmer. Eine durchaus attraktive Frau, so in den frühen Vierzigern. Sie war höflich, hörte sich mein Anliegen an und zog kurz danach eine große Spritze auf. " Bitte machen Sie sich am Gesäß etwas frei !", bat sie mich. Ich bekam ein wenig Angst bei diesem Mörderteil und formulierte irgendetwas mit " nicht Spritzen können, beim Bund und Schmerzen beim Sitzen danach ". Sie bleib jedoch ganz ruhig. Sie rieb die Einstichstelle mit einem Alkohol getränkten Wattebausch ein und setzte, noch ehe ich mich an das Brennen auf der Haut gewöhnt hatte, den Riesenapparat an. Ich spürte nichts, ein Einstichschmerz, kein Druckschmerz - eben, reinweg gar nichts.
" So, das war´s schon!", sagte die Ärztin, während sie ihr Werkzeug weg legte.
Ich kleidete mich wieder für den Kampf gegen das Schneegestöber dort draußen an.

Dabei sah ich auf einige Bilder an der Wand und stutzte ein wenig. " Waren Sie mal als Ärztin in Indien? ", fragte ich sie spontan. " Ja, da gehe ich auch bald wieder hin. ", gab sie mir zur Antwort. " Ach, so, deshalb können Sie so gut Spritzen ". Sie lächelte mich an und erklärte mir nur kurz. dass sie die Arztpraxis zusammen mit ihrem Mann in Bremen nur weiterführt, weil ihr Vater sich in Ruhestand begeben hatte.
Ich bedankte mich beim Herausgehen bei ihr und gab ihr die Hand. Sie schmunzelte dabei ein wenig, weil sie wohl zuvor meinen ängstlichen Blick gesehen hatte. " Die 25 Mark können Sie dann bitte vorne bezahlen. ", sagte sie mir bei der Verabschiedung noch.

Ich entrichtete den Betrag gegen eine Quittung bei der unfreundlichen Schrulle hinter dem Tresen und verließ, nachdem ich die abgetaute Winterjacke angezogen hatte, grußlos den Raum. Unterhalb des Kleiderhakens hatte sich eine große Pfütze gebildet. Die wird die Giftschleuder später garantiert weggewischt haben.

Auch Tage später und während des enorm langen Fluges von Düsseldorf bis Bangkok merkte ich von der Spritze nichts. Es hatte sich kein grünlich - gelber Fleck rund um die Einstichstelle gebildet, so, wie damals bei dem Schlächter in der Sanitätskaserne beim Barras.
Als ich Jahre später wieder - dann nur zufällig - an der Praxis von Frau J. vorbei ging, war das weiße Plasteschild mit der schwarzen Gravur immer noch an der Hauswand. Es könnte sein, dass sie doch nicht wieder nach Indien zurück gegangen ist, um den bettelarmen und todkranken Menschen, die immer noch wie Fliegen in den Gossen und sonst wo sterben müssen, zu helfen. Es wäre schade gewesen. Frau J. war eine sehr gute Ärztin, trotz ihres Vorzimmer - Drachens und meines ungebührlichen " Schneemann " - Auftritts an jenem Montagmorgen im Februar des Jahres 1985.

Gut´s Nächtle mit " Murray Head " und " One Night In Bangkok "







http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-13511631.html

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