Von Traumtänzern, Träumereien und Traumata

Wir schreiben das Jahr 1976, genauer gesagt, wir befinden uns im September dieses Jahres. Ich hatte gerade eine Absage von der Fachhochschule für Wirtschaft in Wilhelmshaven bekommen. Bei der musst ich mich - ausserhalb des ZVS-Verfahrens - für einen Studienplatz bewerben. Mein Fachabitur, dass ich über den Zweiten Bildungsweg an der Fachoberschule Stadthagen - das liegt in Niedersachsen - erwerben konnte, es war mit einem Durchschnitt von 3, 2 eben nicht gut genug. Nebenbei liefen allerdings noch Bewerbungen an der FH in Osnabrück, in Hannover und in Bielefeld. Ich machte mir deshalb berechtigte Hoffnungen, weil zwar die Anzahl der Bewerber dort noch höher , jedoch die Zahl der zur Verfügung stehenden Studienplätze ebenfalls wesentlich grösser war, es jedoch viele Mehrfachbewerbungen gab und die Konkurrenten mit einem besseren Duchschnitt, sich den attraktivsten Studienort aussuchen konnten. Also erwartete ich hoffnungsfroh auf einen positiven Bescheid. Der kam dann etwa Mitte September aus Bielefeld und einige Tage später dann auch aus Wilhelmshaven.
Ich hatte diese Stadt favourisiert, weil ein Mitstreiter der FOS dort wohnte und mir von dem grünen Umfeld berichtete, von dem Seeklima am Jadebusen, von den Studentenkneipen und vielem mehr.

So begab ich mich dann umgehend auf Zimmersuche. Geld stand mir in einem angemessenen Betrag aus meiner Aushilfstätigkeit als Bandarbeiter in einer Glasfabrik auch zur Verfügung. Also waren für das Abenteuer Studium, die Weichen gestellt. Betriebswirtschaftslehre, BWL, an der FH in WHV! Mensch, das war doch etwas. Ein Anfang zu einem neuen beruflichen Werdegang. Heraus aus der miefigen Provinz, aus der piefigen Einöde, mit Rentnern, Kurgästen, Eltern. Alles alten Leutn, die ohnehin keine Ahnung vom Leben hatten. Die eingezwängt in ihrem Umfeld, meinem Tatendrang, meinem Hunger nach dem Leben, im Wege standen. Bloß raus, sofort fort, abhauen, so lauteten meine Losungen. Ach ja, BaföG gab es im ersten Jahr, für die ersten beiden Semester nicht. Ich hatte wahrheitgemäss angegeben, dass mir aus dem monate - langen Knochenjob in der Glashütte, ein Sparbetrag zur Verfügung stand. Er belief sich über 6.000,-- DM und überstieg damit den Freibetrag um ein Vielfaches. Ich war eben eine ehrliche Haut!

So verlagerte ich dann meinen Lebensmittelpunkt, meine Wohnung oder besser mein Zimmer, das aus 15 m² mit Ölofen und Aussentoilettenzugang bestand, um 230 Km nord - östlich. Auf nach Wilhelmshaven, auf in einen anderen Lebensabschnitt, in das Erwachsenenleben, in eine neue Zukunft. Die Vergangenheit ließ ich aber in den Folgejahren nie so richtig hinter mich. Denn alle 2 bis 3 Wochen fuhr ich mit meinen frosch - grünen Renault 4 - das damalige Studenten - Kultauto Nummer Zwei - zu meinen Eltrn, um dort Wäsche wascen zu lassen, eine Fessalien-Tasch mit zu nehmen und auch ein wenig Geld. Ja, die Zeiten waren völlig andere, die Ansprüche von mir - wie bei anderen Kommilitonen/Innen ebenfalls - sehr gering, der Geldbeutel sehr schmal und die Perspektiven eher ungewiss. Das Studium entpuppte sich als Faktenhuberei, als verschulte, mit reaktionären oder konservativen Dozenten durchsetzte höhere Bildungsanstalt. Fachidiotie war das Ziel, Duckmäusertum herrschte unter der Masse der Studenten vor und knallharte Klausuren standen als Abschiedsgeschenk in jedem Vorlesungsfach kurz vor dem Ende des Semesters auf dem Plan. Mir reichte es! Die Kombination von eigenem Stolz und Wissen sowie der politischen Einstellung stellte bereit nach 4 Semestern mich vor die Entscheidung, entweder einen Studienabbruch oder einen Studienortwechsel vorzunehmen. Studienabbruch? Nein, das kam für mich nicht in Frage. Schliesslich wurde mir von dem eigenen Elternhaus stets eingebleut, was Du einmal begonnen hast, das bringst Du auch zu Ende! Jawoll, ja!

Ich quälte mich also durch die letzten Wochen des Sommersemesters 1978, schrieb noch einige Klausuren, von denen ich über die Hälfte in den Sand setzte und liess mich im Juli exmatrikulieren. Die leicht übergewichtige Mitarbeiterin des Sekretariats schaute mich zunächst mit ungläubigen Augen an, als würde ich eventuell von einem anderen Planten kommen und eine ausserirdische Sprache sprechen. Dann fasste sie sich wieder, übergab mir ein Formular und bat mich - in einem schnippischen Ton - die Fragen dort zu beantworten. Ich reicht ihr nach kurzer Zeit den Exmatrikulationsantrag zurück und verliess mit einem freundlich, aber bestimmten: " Auf Wiedersehen ", den Raum. Das war´s - adieu Wilhelmshaven. GoodbyFachhochschule, arrividerci Dozenten. Ihr, die mich zum grössten Teil mit euren Vorurteilen aus der Kriegs - und Nachkriegsgeneration ins offene Messer habt laufen lassen; ihr, die mich wegen meiner sehr langen Haare, meines gammeligen Out-fits, eigentlich nicht richtig ernst genommen habt; ihr, die mir so manche Klausur, deshalb und nur deshalb auch unrecht und nicht nach vollziehbar bewertet habt. Ihr Reaktionäre, ihr Kapitalistenknechte, ihr Spiesser! Bleibt in eurem Kaff!
Ich gehe dorthin, wo das Studium zwar auch verschult, aber politischere Inhalte hat. Ich gehe nach Bremen. Nicht an die als " rot " verschrieene Universität, sondern an die Hochschule für Wirtschaft.

So begann ich im Oktober 1978 das BWL - Studium in Bremen an der HfW fort zu setzen. Mit Fächern, wie Politische Ökonomie, wie Politikwissenschaften und Soziologie. Ich erfuhr viel über die Lehren von Marx, Engels und Lenin, über Freud, Habermas,Marcuse, über Nietzsche,Adorno und Bakunin. Es waren weitere 2 Jahre, in denen ich, noch relativ jung und wissbegierung, mich in die Arbeit von Studentengremien, Mieterrat und sonstigen Diskussionszirkeln einbracht. Es machte sehr viel Spass, sich mit anderen Kommilitonen auseinander zu setzen. Viele Abende und Nächte, viele Wochenenden und Feiertage vergingen mit endlosen Gesprächen, über Probleme, die für uns als solche gesehen wurden, die aber tatsächlich nur für uns welche waren. Der Durchschnittsmichel hatte hierzu ein völlig andere Einstellung, die er dann und wann in offenen Hass und durch faschistoide Parolen öffentlich bekundete. Selbst in der damals sozialdemokratisch geführten Stdt, war die breite Masse konservativ eingestellt. Nun ja, sie las den Weser Kurier, die Bremer Nachrichten, die Bremer Ausgabe der Blöd-Zeitung und die unzähligen Regenbogen-Blättchen. Sie las weder Marx, noch Adorno, noch Habermas. Die Kluft zwischen den Theoretikern an den Hochschulen, den Pratikern in den Betrieben und Behörden, sie war auch damals tief. Eigentlich wurde am grauen Alltag, am realen Leben, an der Gesellschaft vorbei gelehrt. Eine praxisnahe Ausbildung war schon damals nicht die Regel.
Immerhin, ich erhielt mein Diplom. Nun durfte ich mich Diplom-Betriebswirt nennen. Als Kind einer Arbeiterfamilie, dass war auch damals schon eine Ausnahme. So musste ich mich denn 1980 fragen, was sollte ich mit dem Abschluss anfangen. Sollte ich mich - ohne Beziehungen - in irgend einem Grossbetrieb bewerben, sollte ich insAusland gehen, ohne jedoch ausreichende Sprachkenntnisse vorweisen zu könne? Fragen über Fragen! Eine konkreteAntwort kannte ich nicht. Noch nicht!

Als dann, eines Tages, wenige Wochen vor meinem Examen, meine damalige Freundin, die ich aus den Studienzeiten in WHV mit herüber geschleppt hatte, sich mit einem anderen Studenten vergnügte und stöändig nach Hamburg vor, war für mich eigentlich klar, dass ich meine Jugendzeit noch um einige Jahre verlängern werde. Ich bewarb mich um einen Studienplatz an dem Fachbereich Jura an der Uni Bremen. Der damalige Studiengang war in seiner Form einmalig in Deutschland. Das machte mich nichtnur neugierig, sondern auch ehrgeizig. Ich wollte es meiner Ex-Freundin, die über die Einspur-Studenten an den Fachhochschulen ständig lästerte, weil sie selbst an der Uni studierte und sich deshalb für etwas besseres hielt, jetzt aber zeigen. Ich hatte meine Leistungsfähigkeit noch längst nicht ausgeschöpft, mein Limit bei weitem noch nicht erreicht. Also, hing ich noch weitere 6,5 lange Jahre als Jurastudent hinten heran. Eine ewig lange, nicht enden wollende Zeit. Eine lernintinsive Zeit, eine Zeit mit vielen Erlebnissen im privaten und im Studienbereich. So legte ich dann im Dezmber 1986, als vor 20 Jahren, mein Staatsexamen ab. Ich war nun Volljurist, ich hatte es geschafft, ich hatte es Allen gezweigt!

Es folgten genau so viele Jahre in einem Beruf, den ich mir gewünscht, von dem ich geträumt und den ich idealisiert habe, den Anwaltsberuf. Es war eine ebenso intensive Zeit, wie die des Studiums. Es gab ebenso viele Höhen und Tiefen, freudige Ereignisse und traurige Begebenheiten. Die vielen Jahre haben den Blick für die Abläufe in der Welt, in diesem Staat und in dieser Gesellschaft geschärft. Sie haben mich zu einen kritischen Begleiter werden lassen, der versucht, die Menschen so zu sehen, wie sie wohl überwiegend sind: egoistsich, dumm und geschwätzig! Aber auch sozial eingestellt, selbstlos und intelligent. Letzteres sollte jener Unterschied sein, das den Menschen von den übrigen Kreaturen unterscheidet.

Wenn ich nun auf meinen bisherigen Lebenslauf zurück blicke und diese Daten mit denen so mancher jungen Mitbürger/Innen vergleiche, so kommen mir erhebliche Zweifel, ob der oben besagte Unterschied hier gravierend ist. Die hiesige Gesellschaft scheint sich zunehmend in zwei Klassen aufzuteilen. Jene, die durch Ausbildung und Beruf, noch immer gute Chancen haben, aus ihrem ihnen gegebenen Leben, etwas Sinnvolles zu kreieren; aber auch Jene, die quasi perspektiv und antriebslos, ihr Leben vergeuden. Es scheint allerdings auch eine Kategorie von Menschen zu geben, die faktisch ein Klammerglied zwischen beiden Extremen bilden.
Vor vielen Jahren wurden sie als akademisches Proletariat bezeichnet. Diese BRD´ler waren gut bis sehr gut ausgebildet, hatten jedoch aus vielfältigen Gründen, kaum eine reelle Chance ihre Ausbildung zum Nutzen der Allgemeinheit einzubringen.

Eine hochzivilisierte und über alle Maßen technisierte Gesellschaft, wie sie die der Bundesrepublik im internatioanlen Vergleich nun einmal darstellt, sie kann sich die Verschwendung von gut ausgebildeten, jungen, aber auch älteren Menschen, nicht leisten. Sie wird über lange Sicht betrachtet, dafür bestraft und in der Entwicklung benachteiligt. Wer die Intelligenz an den gesellschaftlichen Rand stellt, der muss hierfür die Nachteile in Kauf nehmen. Das zeigt die Historie, das zeigen aber auch andere Völker, Stämme oder Länder.

Wenn ich mir die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt für Akademiker ansehe, dann habe ich nichtnur Zweifel, dass dieses Land, dieses Volk und dieser Staat, es schaffen wird, in den nächsten Dekaden auf allen Gebieten des menschlichen Zusammenlebens auf der Erde, unter die Führungsgruppe zu gelangen. Es fehlt an den hierzu notwendigen Voraussetzungen.
Das Land hat es versäumt, jene negativen Entwicklungen, die im Zusammenhang mit dem föderalen System entstanden sind zu korrigieren. Insbesondere das Schul - und Hochschulwesen ist mehr als nur reformbedürftig. Es muss radikal umgekrempelt werden. Kleine Veränderungen oder Reformansätze, die bereits an der Allmacht der Länder, ihrer Landesfürsten und der permanenten Ignoranz ihrer Bevölkerungen, regelmässig scheitern, sind dazu nicht geeignet. Es muss eine Bildungsrevolution erfolgen. Weg von der Kleinstaaterei des Bildungswesens, hin, zu einer Vereinheitlichung. Zu einem System, innerhalb dessen Leistungen und Bedingungen nicht nur vergleichbar werden, sondern die Bildungsvoraussetzungen gleich sind.

Wenn dann die Hochschulabsolventen/Innen auf dem Arbeitsmarkt gelangen, dann müssen sie vergleichbare Abschlüsse vorweisen können, dann muss eine Auswahl nach der bewerteten und benoteten Leistung, nach dem individuellen Können, der Kompetenz und der gezeigten Fähigkeit erfolgen, und nicht - wie es immer noch praktiziert wird - nach Alter, Geschlecht und Ausbildungsort. Diese Bedingungen sind Grundvoraussetzung für eine entwicklungsfähige, eine moderne, eine auf Zukunft bauende Gesellschaft. Sie fehlen in der BRD - schon seit Jahrzehnten.

Andererseits muss ein Hochschulabsolvent von seinen - über die Uni oder FH gepriesenen - fachspezifischen Denkmustern genügend Abstand gewinnen, um in der Arbeitswelt zu bestehen. Dazu muss mit der Mär aufgeräumt werden, dass eine Akademikerin, das ein Doktorand, ein Diplomant, ein Master, ein Bachelor oder ein Assessor automatisch eine Einkommensgrenze überschreitet, die vielen übrigen Mitmenschen verwehrt wird. Die Ansprüche an den Arbeitsmarkt, an die mögliche Karriere und das soziale Umfeld, sie sollten drastisch zurück gefahren werden. Nicht der Verdienst ist das einzig messbare Verwertungskriterium, sonder die Berufsinhalte sind es. Es nutzt Niemanden, wenn ein gut dotierter Job, nür Reglementierung und geistige Ödnis hervor bringt. Der finanzielle Aspekt, er scheint bei vielen Studenten/Innen immer noch eine zu grosse Rolle zu spielen. Dazu gesellt sich, ein begrenzter beruflicher Horizont. Wer als Lehramtsstundent, dann zum späteren Assessor in bestimmten, gewählten Fächern seinen Abschluss gemacht hat, der sollt nicht zwangsläufig auch nur dort seine beruflichen Erfahrungen sammlen müssen. Hier ist bei den Studenten/Innen eine höhere Flexibilität gefragt.

Als kürzlich DER SPIEGEL - wie er es in schöner Regelmässigkeit publiziert - über die Befindlichkeiten der akademischen Bevölkerungsgruppe sinnierte, dabei die Vor - und Nachteile aufführte, da habe ich einige Male lauthals gelacht. Welche Traumtänzer, Träumereien dort beschrieben wurden. Allzuoft endeten sie in einem Desaster. Einige der geschilderten Ausbildungsbiographien, sie waren im Ansatz bereits zum Scheitern verurteilt - lasen sich, wie Grimm´s Märchen. So bedeuten heute - mehr denn je - eine Hochschulausbildung und ein akademischer Grad zwar eine gewisse Chance, aus dem vorbegebenen Umfeld aus - oder aufzusteigen - jedoch kann bei dem entsprechenden Elternhaus, keine Garantie auf einen Traumjob auf Lebenszeit abgegebenen werden. Die geschilderten Traumata sind dafür hinreichender Beleg. " Jeder ist des Glückes eigener
Schmied ", so lautet ein altes Sprichwort. Der König der Preussen, der Alte Fritz, hat es aber auch anders formuliert:
" Jeder soll nach seiner eigenen Fasson seelig werden! ". Für mich sind beide Plattitüden untrennbar mit einander verwoben. Vorallem in der heutigen Zeit!

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

" Eine Seefahrt, die ist lustig. " - nur nicht in den 60er Jahren zum AOK - Erholungsheim auf Norderney.

" Oh Adele, oh Alele, ah teri tiki tomba, ah massa massa massa, oh balue balua balue. " und die Kotzfahrt nach Wangerooge.

Was ist eigentlich aus dem Gilb geworden?