Der Winteranfang 2006

Die dunkele Jahreszeit hat uns längst eigeholt. Ab Mitte November werden die Tage sichtbar kürzer und ungemütlicher. Das Wetter bleibt auch in diesem Jahr, dem Jahr 2006, wechselhaft. Eigentlich schon fast wieder zu warm, für die letzten Wochen, die Spätherbsttage. Ich wollte meine Aktivitäten an der frischen Luft, im Freien, eigentlich auf ein Minimum reduzieren. In den beheizten Räumen unseres hauses ist es jetzt angenehmer. Doch einige wichtige Erledigungen zwingen mich dazu, das Haus zu verlassen. Ich nehme einen Regenschirm mit. Der Himmel sieht so grau aus, wie er es in den letzten Novembertagen auch war. Schmuddelwetter, wie wir Norddeutsche es bezeichnen. So verlasse ich das Grundstück und begebe mich auch die kleine Strasse. Hinunter in Richtung Stadt, dort, wo das Leben pulsiert. Dort, wo mich Verkehrslärm und Gestank schnell vereinnahmt haben.

Ich gehe schnurstraks in Richtung Ortsamt. Eine Hauptstrasse entlang. Vorbei an Geschäfte mit Weihnachtsauslagen, vorbei an leeren Räumen, unbewohnten Häusern und brach liegenden Grundstücken. Es liegt - deutlich sichtbar - Unrat auf den Grundstücken. Eingeschlagene Fensterscheiben, eingetretene Eingangstüren, marode Dächer, abbröckelnder Putz an den Fassaden, rostige Gartenzäune, ungepflegte Vorgärten. Die Überreste jener Zeit, die hier den Menschen einst eine gewisse Zukunft aufgezeigt hatte. Alles vergangen, vergessen, vorbei. Jene 40 jahren des Versuchs, eine andere, eine vermeitlich bessere Staats - und Gesellschaftsform zu praktizieren. Dieses Experiment ist gescheitert. Vor 15 Jahren endgültig besiegelt.

Ich gehe an Strassen vorbei, deren namen eher nichts sagend sind. Eine Lübecker Straße reiht sich in diese Namenskette ein. Lübecker Straße! Lübeck? Da war ich doch schon einmal. Vor vielen Jahren. Beruflich! Als Anwaltt! Im Knast! Ein Verrückter, der aus seinem Leben nichts gemacht hatte, er bat mich um Hilfe. Die Fahrt war lang. Durch Hamburg, vorbei an den Elbbrücken von Billstedt. Auf die A 7 in Richtung Flenzburg. Meine Mitfahrerin war eine Aushilfe eines Kollegen. Sie mochte mich. Ich sie auch! Aber da war denn doch nichts. Kein Funke, der übersprang. Keine Annäherung, keine Liebelei, kein Sex! Lübeck? Lübecker Straße in Bremen?
Da wohnt in den Endsiebzigern auch eine Studentin mit Vornamen Karin. Karin Gubba. Klein, zierlich, schlank, flach. Nicht hässlich, aber auch keine Schönheit. Eine BWL-Studentin eben. Die wenigen Frauen damals, sie waren nicht die Attraktivsten. da gab es hübschere, langbeinige, schlanke, mit dunkelen, blonden, brünetten Haaren. Die Füchsin, sie fällt mir ein. Dunkelblond mit einem Hauch von Rot in ihrem Haar. Das war in Wilhelmshaven 1977. In einer Diskothek, als ich sie wieder sah. Eine Chance. Ich war zögerlich. Es ging vorbei. Nun bin ich hier in Elbflorenz.

Die Jahre sind verflogen. Mir kommt das Lied von Reinhard Mey in den Sinn " Komm schenk mein Glas noch einmal ein! " Bilder von vergangener Zeit. Freunde, Mädchen, Erlebnisse, alles läuft, wie im Zeitraffer in meinen Gedanken vorbei. Scheiss Dezember 2006? Nein, mit dem zunehmenden Alter verfliegen wohl auch viele Träume, Pläne, Hoffnung. Es gesellen sich aber jene Ereignisse, Erfahrungen und Lebensnotwendigkeiten hinzu, ohne die es manchmal nicht weiter geht. Pragmatismus, Realismus, Opportunismus, es sind alles Umschreibungen, die im Alter oft eine gewichtigere Rolle spielen, als zu den Zeiten, in denen ein junger Mensch seinen Weg sucht. Das Alter blickt auf unzählige Weise in den Lebenslauf jedes Menschen hinein. Mit ihm umzugehen, sich mit ihm befassen, das ist eine grosse Aufgabe. Viele Mitmenschen scheitern daran. Es gibt jene, die sich im Alter eher noch jung fühlen. Dann sind es Jene, die mit zunehmenden Alter verkalken, ja sogar vergreisen. Die breite Masse steht irgendwo dazwischen.

Nun erreiche ich zu Fuss mein Ziel. Es ist, wie eine Erlösung. Die Gedanken an die Vergangenheit verschwinden. Ich begebe mich in das Cottaer Rathaus. An der Auskunft frage ich nach dem Zimmer für Lohnsteuerkarten. Ich ziehe eine Nummer aus dem Automaten. Es ist halb drei Uhr - nachmittgs, werktags. Gespenstische Stiile. Kein Laut auf den langen Fluren, aus den Dienstzimmern. Die Anzeigentafel bewegt sich, es ertönt ein Gong, meine Nummer erscheint. Ich habe kaum eine Minute im Warteraum verbracht. Als ich die Tür des Dienstzimmers öffne, schaut mir eine subalternde, etwas füllige Frau entgegen. Sie sieht so aus, wie wohl viele Fruen jenseits der 40 aussehen. Namenlos, konturlos, ausdruckslos! Ich begrüsse sie mit der Tageszeit. Sie bietet mir den Stuhl zum Platz nehmen an. Ich lasse mich herunter plumsen. Sie fragt nach meinem Anliegen. Ich trage es ihr vor.

Eine Ersatzliohnsteuerkarte für meine Frau und mich. Beide - bereit im September zugesandten Karten - sind verschwunden. Verlegt, wollte ich nicht sagen. Das deutet auf Alter, auf Vergesslichkeit hin. Die Ausstellung, das Zeremoniell, die deutsche Bürokratiemaschinerie, sie kostete mich allenfalls zehn Minuten. Der Weg dorthin war sechs Mal so lang. Ich bedanke mich, verabschiede mich. Es ist kurz vor Heiligabend - wünsche frohe Weihnachten. Die Retourkutsche folgt auf dem Fusse. Von der Auskunft hole ich mir noch schnell zwei Rollen gelber Wertstoffsäcke, und die - längst bekannte - Information, dass ich kein Papier dort hinein legen darf. Aha, die Dame möchte mir auch zeigen, dass sie eine Funktion hat. Verwaltungsangestellte, vergütet nach BAT Ost! Sie belehrt mich, weil ich mich unpräzise ausgedrückt habe. Ein Glanzpunkt in ihrem Tagesablauf?

Auf dem Rückweg kommen mir wieder die Gedanken an die Vergangenheit. Sprunghaftes Eintauchen in längst vergangene Zeiten, an Episoden aus den frühen 70ern, den 80ern, den 90ern. Namen, Orte, Erlebnisse, alles dreht sich wild auf dem Zeitstrahl. Der Dezember 1978 kommt mir in Erinnerung. Kurz vor Weihnachten fahre ich zu meiner damaligen Freundin, meiner Lebensabschnittsgefährtin, meiner Alibi-Begleiterin Frauke nach Wilhelmshaven. WHV kurz vor dem Fest. Ich hocke bei den Eltern in der Bismarckstraße, wo sie immer noch wohnt, dahin vegetiert. Ohne Ziel, ohne Perspektive, ohne Lebensplan. Eine junge Frau Anfang 20. Es nervt, aber ich behalte die Contenace. Am Mittag des 2. Weihnachtstages fahren wir mit meinem grünen R4 nach Heeßen, zu meinen Eltern. Sie nervt jetzt. So war es bereits damals. Meine Eltern, deine Eltern, meine Familie, deine Familie, mein Leben, dein Leben, mein Studium, dein Studium - dein Geld!
Es began zu schneien und hörte erst nach 3 Tagen wieder auf. Die Schneekatastrophe in Norddeutchland - sie wird in die Historie eingehen. Bergepanzer und Bundeswehreinheiten räumen die Strassen frei. Esgab kein heraus kommen, aus dem Ort. es gab dafür Stress zwischen Frauke und meiner Mutter. Sie wollte nach Hause und zwar auf Teufel komm raus. Ich blieb - nicht nur auf Anraten meiner Mutter - hart. Wir fahren nicht - heute nicht!

Es sind seit dem fast 3 Jahrzehnte vergangen. Ich höe aber heute noch das Gezetere der jungen Frau. Das Genörgele, das unvernüftige Verhalten von Frauke. Als wir endlich am 30. Dezember nach Wilhelmshaven zurück fahren könne, tümen sich die Schneemassen meter hoch an den Strassenrändern auf. Wir fahren mit dem Kleinwagen, wie durch einen Tunnel. Links und rechts von der Fahrbahn Schnee, weiße Pracht, kalte Macht! Ich benötige für die knapp 250 Kilometer über 4 Stunden Fahrtzeit. Winter 1978 - ein Abenteuer?

Es folgen weitere, kalte und schneereiche Winter. Winteranfang 2006. Es ist nass, aber relativ warm. 10 Grad werden es bis zum Winteranfang bleiben. Der 21. Dezember, der kürzeste Tag, die längst Nacht. So wie schon vor 28 Jahren, vor 38 Jahren, vor 48 Jahren, vor 52 Jahren, dem ersten Winteranfang in meinem Leben. Er soll kalt gewesen sein, auch ohne Schnee. So gleichen sich die Ereignisse doch irgendwie. Es kommt eben auf den Betrachter und die Betrachtungsweise an. Am nächsten Tag habe ich die Lohnsteuerkarten verwechselt. Meine Frau meckert und ververweist auf Alzheimer. Das Alter? Einige Tage darauf entdecke ich die Originale beider Steuerkarten 2007. Ich hatte sie bereits unter einige Schriftstücke gelegt, die ich abheften wollte. Ich lege se in einen Ablagekorb. Bis zum Ende des Jahres 2007 werden sie dort liegen bleiben. Winteranfang 2006 - ich bin älter geworden oder nur vergesslich?

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