Das Ende einer Kohlfahrt
Ab November jeden Jahres, wenn sich die ersten, noch leichten Nachtfröste durch die Norddeutsche Tiefebene schleichen und der herbst den dortigen Bewohnern zu sagen pflegt: " Ich bin dann mal eben wieder weg! ", beginnt sie, die Hochzeit der " Kohl - und Pinkelfahrten ". Dann wird traditionsgemäß der umgebaute Handwagen, der Bollerwagen oder ein anderen zwei - bis vierrädriges Gefährt aus dem keller, dem Schuppen oder sonstwo her, geholt und alsbald dafür präpariert.
Sinn und Zweck jenes Brauchtums ist es, möglichst schnell einen möglichst ausreichenden Alkoholpegel zu erhalten, damit jener Nonsens, der sich während der Wanderschaft mit dem -natürlich von Hand zu ziehenden - Begleitfahrzeug, nicht als solcher selbst erkannt wird. Zu dem Flachsinn, der im Zuge einer solchen " Kohl - und Pinkelfahrt " den Beteiligten zugemutet und von diesen - dank geistiger Getränke - auch akzeptiert werden muss, zählen:
- das Würfeln mit einem über dimensionierten Spielgerät;
- das Erraten irgendwelcher Gegenstände im Handwagen;
- das Sackhüpfen;
- das Springen über höher werdende Seile;
- das Erraten von deutschem Liedgut ohne Verfalldatum;
- das Eierlaufen
oder einige Spielchen mehr ( https://www.nordbuzz.de/ausgehen/besten-lustige-kohlfahrt-spiele-eure-tour-ideen-spieletipps-draussen-unterwegs-9550134.html ).
Nach zwei bis vier Stunden ist der Anwesende dann von dem - nicht Schweiß treibenden - Unfug erlöst und darf sich der eigentlichen Hauptaufgabe an einem solchen Nachmittag widmen: dem Kohl essen. Auch dabei ist Brüderchen Alkohol kräftig im Spiel. So mancher hat danach keinen leichten Gang zurück in das traute Heim.
Es war wohl an einem Freitagabend im Spätnovember oder frühen Dezember zu Beginn der 1980er Jahre. Eine dieser unsäglichen " Kohl - und Pinkelfahrten " erfuhr in einem Gasthof des Dorfs Bollen bei Achim an der Weser ihren Höhepunkt. Das Fress - und Saufgelage mit Namen " Kohlfahrt " erreichte seinen Höhepunkt, der in der Ernennung des so genannten " Kohlkönigs " mündete. Die Anwesenden waren durch reichlich alkoholische Getränke gefördert, in einer Hochstimmung.
Getreu dem Motto: " Wenn´s am schönsten ist, soll man geh´n ", verließ eine Gruppe von vier Personen, genauer zwei Ehepaare, die allesamt reichlich " getankt " hatten, das Bollener Lokal und begab sich zu Fuß auf den Heimweg nach Bremen - Uphusen. Sie hatte einen Weg von zirka 2,5 Kilometer zurückzulegen.
Auf der " Bollener Landstraße ", die die Gruppe zunächst nutzte, war es dunkel - stockdunkel. Außerhalb der Stadtgrenze begann das Land, die Zivilisation reduziert sich dort auf wenige, oft nur spärlich beleuchtete Häuser, deren Lampen bereits vor Mitternacht erloschen.
Es war zudem eine kühle Nacht. Eigentlich keine idealen Bedingungen für einen längeren Fußmarsch mit mehr als 2, 5 Km.
Die Gruppe bewegte sich auf der rechten Fahrbahnseite der einstreifigen " Bollener Landstraße ". Alle vier Personen trugen zudem dunkle Kleidung. Alles zusammen berücksichtigt, wäre ein Unfall, eine Kollision mit einem motorisierten Verkehrsteilnehmer nichts außergewöhnliches.
Mein einstiger Studienkollege hatte den Abend in Bollen bei den künftigen Schwiegereltern verbracht. Als seine Verlobte und er von dem Grundstück am " Bollener Deich " weg fuhren, musste es vielleicht kurz nach 22.00 Uhr gewesen sein. Er kannte die Strecke längst, wusste demnach wo er wie schnell fahren durfte und auf welche Dinge er als Autofahrer zu achten hatte.
Er fuhr einen älteren VW Golf aus der ersten Modellreihe in den Jahren 1975/1976. Diese Fahrzeuge hatten damals nicht jede ausgeklügelten Scheinwerfertechniken, die es in nahezu allen Modellen heutzutage gibt. Die Sicht war durch das eingeschaltete Abblendlicht eher eingeschränkt, da ab und zu noch Fahrzeuge im Gegenverkehr aus Richtung Bremen kamen.
Mitte der Teilstrecke auf der " Bollener Landstraße " passierte es dann. Wie aus dem Nichts erschienen Personen auf der Fahrbahn. Es waren nur deren Rücken für Bruchteile von Sekunden zu sehen. Dann kamen mehrere dumpfe Aufpralle, das Quitschen der Reifen, das Ausbrechen des PKW, den der Fahrer nur mit Mühe wieder auf Spur bringen konnte. Dann war wieder Ruhe. Beide PKW - Insassen stiegen aus. Die Verlobte meines Kollegen heulte, schluchzte und schrie. Er selbst stand unter Schock. Aus dem rechtsseitigen Graben war ein Stöhnen zu hören. Der Fahrer bewegte sich auf die Geräusche zu und sah vier Personen, seitlich versetzte im schmutzigen Graben liegen.
Zwei aus der Gruppe konnten sich bereits selbst aufstehen, bei den beiden anderen Verletzten, musste mein Studienkollege mithelfen. Beide setzen sich zunächst ins feuchte Gras am Straßenrand. Während der Studienkollege immer wieder beteuerte, die vier Verletzten nicht gesehen zu haben, näherte sich aus Richtung Bollen ein PKW und hielt bei der Unfallstelle an. Der Unfallfahrer schilderte dem Fahrzeugführer kurz das Geschehen und bat, einen Krankenwagen und die Polizei zu rufen.
Es gab zu jener Zeit noch keine Mobiltelefone, so dass der andere Fahrer erst in Richtung Bremen fahren musste, ehe er an einer Telefonzelle vorbei kam. Wenige Minuten später rauschten Krankenwagen und ein Polizeiauto heran. Es wurde das große Besteck aufgefahren, denn bei einem Verkehrsunfall mit Personenschaden gibt es keine Kompromisse. So verwandelte sich die Bollener Landstraße binnen kurzer Zeit in ein blau - blinkendes Lichtermeer.
Die Polizei nahm die ersten Angaben zum Unfallgeschehen auf und stellte dabei die Personalien der Beteiligten fest. Wie nicht anders zu erwarten, rochen die Beamten jene Alkoholfahnen der Kohlfahrtteilnehmer und ließen deren jeweiligen Blutalkoholwert feststellen. Aber auch der Studienkollege musste " pusten ". Er hatte allerdings keinen Alkohol getrunken, was die Polizisten mit Wohlwollen protokollierten.
Nach einer halben Stunde war die Show vorbei; die Verletzten kamen in ein Krankenhaus; der Unfallsachverständige entschwand so schnell wie er gekommen war und der Kollege durfte nebst Verlobter in Richtung Bremen weiter fahren.
Einige Tage später klopfte es an meiner Zimmertür. C. stand mit bleichem Gesicht und sichtlich aufgelöst vor mir. Ich bat ihn herein. Wir tranken einen Tee und dann legte er los. Er schilderte mir detailliert die Unfallgeschichte. Mit jedem Satz, den er von sich gab, wurde er nervöser. Okay, C. war um einige Jahre jünger als ich. Er hatte kaum Lebenserfahrung; war gleich nach dem Abitur zum Jura - Studium zu gelassen worden. Er hatte keine Bundeswehr hinter sich bringen müssen, besaß auch keine Berufsausbildung und legte nicht den Umweg über das Fachabitur und ein beendetes Fachhochschulstudium zurück. Er war damals eher unsicher in seinem Auftreten. Er war leicht beeinflussbar. Er hatte keine gefestigte, politische Meinung. Ein überwiegend noch unfertiger, junger Mann, eben.
Ich beruhigte C. Das schien ihm ein wenig Kraft zu geben, um jene Prozedur durchstehen zu können, die auf alle Unfallfahrer in einem solchen Fall wartet.
Wenige Tage danach flatterte ein Schreiben der Polizei Achim bei C. ein. Es war eine schriftliche Beschuldigtenanhörung, wie sie die Strafprozessordnung immer vorsieht, wenn u.a. einem Autofahrer fahrlässige Körperverletzung vorgeworfen wird. Eine Routinesache, wie sie Hunderttausend Mal pro Jahr vorkommt. Doch für C. schien eine heile Welt zusammenzubrechen. Er geriet jetzt vollends aus dem tritt. Er erzählte mir, dass er nächtens, weil er sich Sorgen mache, nicht zur Ruhe käme und deshalb aus der Uni - Bibliothek mehrere Strafgesetzbuch - Kommentare ausgeliehen habe.
Auweia, das hörte sich bedenklich an.
Ich konnte ihn dennoch ein wenig beruhigen. Ich empfahl ihm, sich über den Rechtsanwalt H., bei dem wir eine Ausbildungsstation durchlaufen hatten, die Ermittlungsakte zu besorgen. Danach - so bot ich es C. an - könnten wir zusammen eine so genannte Schutzschrift abfassen, in der wir eine juristische Bewertung des Sachverhalts vornehmen würden. Ferner regte ich an, dass er die beiden Männer, die sich noch im Krankenhaus befanden besuchen solle und ihnen jeweils einen Blumenstrauß übergeben möge. C. schien auch dieser Vorschlag einleuchtend zu sein. Er fuhr in die Kanzlei von H. in der Brunnenstraße in Bremen und unterschrieb dort eine Strafprozessvollmacht. Dann beantragte er im Namen des Anwalts die obligatorische Akteneinsicht.
Einige Tage danach kam Post von dem Polizeirevier in Achim. Die Ermittlungsakte lag in einem DIN A 4 - Brief. Auf mehreren Dutzend Blättern sowie einer Fotomappe war jener Verkehrsunfall dokumentiert, der dem Studienkollegen seit Wochen schlaflose Nächte bereitet. Im typischen Amtsdeutsch wurde hier von Geschädigten und dem Beschuldigten gesprochen sowie versucht, den Unfallhergang möglichst detailliert nachzustellen.
Der Studienkollege C. kopierte sämtliche Schriftstücke und erschien danach bei mir im Mensa - Wohnheim. Wieder war er völlig aufgeregt und ersonn während unseres Gesprächs die spinnerten Ideen, wegen derer ich ihn bereits Wochen zuvor zurecht gestutzt hatte. Dennoch: meinem Studienkollegen C. ging der A.. auf Grundeis. Er hatte " Muffe ", " Muffensausen " - einfach gesagt: Angst vor dem, was in jetzt erwarten könnte. Seine Karriere als Jurist, als Richter ,vielleicht als Staatsanwalt oder gar Verwaltungsbeamter, sie schien stark gefährdet zu sein.
Ich beruhigte ihn. Das Ermittlungsverfahren wegen fahrlässiger Körperverletzung war ja noch nicht abgeschlossen. Wir werden uns noch zusammensetzen, um eine juristisch fein ausgearbeitete Einlassung zu dem Tatvorwurf aufs Papier bringen und den " Feinden " in der Staatsanwaltschaft Verden eine volle Breitseite vor den Bug geben.
Gesagt, umgesetzt!
Kurz danach erschien C. wieder in meinem 19,4 m² - " Luxuriousness " in der Leobener Straße 4, Zimmer 15, 3. Stock, und baldowerte mit mir ein juristisches " Meisterwerk " aus. Er war zwar immer noch hyper nervös, aber mit jedem Satz, mit jedem Abschnitt der mindestens 4 DIN A 4 - Seiten umfassenden " Schutzschrift ", wurde er etwas ruhiger. Und dieses, obwohl ich ihm klipp und klar erklärt hatte, dass er seine Karriere - Ambitionen im Hinblick auf einen sicheren und Pensions fähigen Posten als Richter, Staatsanwalt oder Verwaltungsjurist schon jetzt in das Reich der Träume ansiedeln muss, denn er hätte mit dem Bremer Abschluss außerhalb der Freien und Hansestadt keinen Hauch einer Einstellungschance; zudem im eigenen Bundesland auch - und dieses kommt immer noch als Laufbahn fördernd hinzu - kein Parteibuch ( einst, das der SPD ).
So formulierten, fabulierten und feilten wir mehrere Stunden an dem Glanzstück der Jurisprudenz herum; wohl wissend, das der " Feind " gegenüber jedes Wort auf die berühmte Justitia - Goldwaage legen wird und in Kenntnis einer Empfehlung unseres Strafrechtsprofessors Otto Backes, der uns empfahl, gegenüber den Strafermittlungsbehörden immer zu schweigen, weil jedes gesprochene und geschrieben Wort, eines zu viel sei.
Wir Wir hielten uns in diesem Fall nicht an die ansonsten zutreffende Empfehlung unseres Strafrechtsdozenten Otto Backes und tippten das Skript anschließend auf dem Kanzleibogen des Ausbilders ab, von wo es seinen Weg zur Staatsanwaltschaft nach Verden fand.
Die Wochen vergingen. Eines Tages landete ein Schreiben aus Verden
auf dem Schreibtisch des Rechtsanwalts H. in Bremen. Hierin stand, dass die
Staatsanwaltschaft von der Erhebung einer Anklage ansehen werde, sofern ein
Betrag von 300 DM zugunsten einer gemeinnützigen Einrichtung bis zu einer dort
benannten Frist gezahlt werden würde. Mein Studienkollege machte Luftsprünge.
Er war mit diesem Vorschlag sofort einverstanden und überwies den Betrag ein paar Tage später aneine der in dem Schreiben genannten Vereine.
Damit war für ihn die Sache erledigt.
Doch für die Haftpflichtversicherung noch lange nicht. Sie quälte den Studienkollegen noch längere Zeit mit ihren Fragen zum Unfallgeschehen und zahlte den vier Verletzen irgendwann einige Hundert DM Schadenersatz. Die versuchten selbst die Reinigungskosten für die verschmutzte Bekleidung ersetzt zu bekommen. Allerdings gab es dafür nur 50 %, denn der Haftpflichtversicherer ging von einem Mitverschulden aus. Dazu führte er aus, dass die Verletzten die falsche, weil unsicherere Straßenseite genutzt hätten, dass sie dazu noch dunkel gekleidet und - dieses war auch hier entscheidend - erheblich alkoholisiert waren ( bei allen Beteiligten wurde ein Wer von 1,6 bis 1,4 Promille festgestellt ).
Das Ende dieser Kohlfahrt endete im Krankenhaus. Warum wundert mich das bis heute nicht?
Das Ende dieser Kohlfahrt endete im Krankenhaus. Warum wundert mich das bis heute nicht?
PSYCHIC ILLS - Days - Early Violence 2006:
Kommentare