WARUM ES AM 24. DEZEMBER KEINE GERICHTSTERMINE GIBT. EINE VORWEIHNACHTSGESCHICHTE VON ADVOCATUS DIABOLI. NIEDERGESCHRIEBEN VON SELBST.





In diesem Jahr fällt der 24. Dezember auf einen auf einen Dienstag. Die Weihnachtstage dürfen wir deshalb mitten in einer Woche feiern. Vor einem Vierteljahrhundert, also 1994 fiel Heilig Abend auf einen Samstag. Soweit war es für viele Arbeitnehmer nur ein verlängertes Wochenende. Die meisten Geschäfte hatten an diesem 24. 12. 1994 bis 14. 00 Uhr geöffnet, dann war bis Dienstagmorgen 06.00 Uhr erst einmal Feierabend.

In der einstigen Volksrepublik Jugoslawien herrschte weiterhin Krieg. Die einst von dem großen Führer Josip Broz Tito zusammengeschmiedete Allianz aus teilautonomen Republiken zerbrach. So, wie der gesamte Ostblock unter der vormaligen Herrschaft der UdSSR implodiert war. Die Zeiten hatten sich geändert. Viele Teilrepubliken lösten sich aus einem Verbund und strebten die vollständige Autonomie an.

So auch Slowenien, die nordöstlichste Republik des einstigen Jugoslawien. Nach einer Unabhängigkeitsdeklaration 1990 kam es ein Jahr später zu einer bewaffneten Auseinandersetzung mit den Truppen der so genannten jugoslawischen Förderation. In dem als " 10 - Tage - Krieg " in die Geschichte Sloweniens eingegangenen Auseinandersetzungen ging das sich lös gelöste Land als Sieger hervor.

Die Truppen der Staaten Rest - Jugoslawiens zogen sich überraschend zurück. Der Krieg hinterließ dennoch eine Reihe von Toten und immense Schäden.

https://de.wikipedia.org/wiki/10-Tage-Krieg

In jenen Sommertagen, in denen in Slowenien Krieg und Chaos herrschten, floh ein Polizist der slowenischen Einheiten aus dem Norden des Landes über Österreich nach Deutschland. Er war zu diesem Zeitpunkt 23 Jahre alt. Damit zu jung, um im Krieg sein Leben und seine Gesundheit zu riskieren. Er war vor dem faktischen Zusammenbruch des Vielvölkerstaates Jugoslawien zum Polizisten ausgebildet worden und hatte inzwischen den Rang eines Oberleutnants.

A. ( sein Name ist mir längst entfallen; seine Akte habe ich geschreddert; sein Gesicht nach den Jahren vergessen ) stand eines schönen Sommertages vor dem Arbeitsplatz meiner Auszubildenden in meinem Büro in der Hastedter Heerstraße 164 in Bremen. Er sah übermüdet aus. Wirkte ein wenig eingeschüchtert; aber er sprach ein ausgezeichnetes Englisch.

A. wollte mit mir sprechen. Er trug sein Anliegen auf Englisch vor. Der deutschen Sprache war er nicht mächtig; obwohl sein Heimatort nur wenige Kilometer vor der damaligen jugoslawisch - österreichischen Grenze liegt.

Meine Englischkenntnisse reichten bei weitem nicht aus, um seine Schilderungen zu verstehen. Es ging hierin um den im heutigen Slowenien tobenden Krieg. Er sprach über seine Flucht, über seine persönliche Situation in seiner Heimat und später auch noch über seinen Bruder, den er dort hatte zurücklassen musste. Er wollte in Bremen einen Asylantrag stellen. Er hatte Angst vor einer Rückkehr in seine Heimat, weil er dort zum Kampf gegen die jugoslawische Armee gezwungen worden sei. Auch erzählte er mir, dass seine Eltern nach Mazedonien geflohen waren, weil sie dort - wie er - geboren seien.

Ich hörte mir seinen Vortrag in Ruhe an, dann ließ ich ihn eine handelsübliche Vollmacht unterschreiben und bat ihn einen Vorschuss von 50 DM beim nächsten Besuch mitzubringen.
Außerdem notierte ich mir seinen Namen, sein Geburtsdatum und schmierte Stichworte in Englisch und Deutsch auf einen DIN A 4 - Bogen. Später suchte ich mir eine schon reichlich betagte " Langenscheidt " - Ausgabe als Übersetzungshilfe aus meinem Bücherschrank. So konnte ich mir ein besseres Bild zu dem Anliegen von A. machen.

A. kam am nächsten Nachmittag wieder vorbei. Er übergab meiner Auszubildenden die 50 DM und verabschiedete sich danach wieder. Ich legte danach los und diktierte in mein " Sülzophon ": " An das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge, Steinsetzerstraße 13, 28279 Bremen,... Antrag auf politisches Asyl gem. Art. 16 Absatz 1 GG, des slowenischen Staatsangehörigen A, wohnhaft, Ludwig - Quidde - Straße 12, 28207 Bremen,...... ".

Nach dem Diktat übergab ich die Mini - Kassette meiner Auszubildenden, die den ganzen Sermon abtippte. Ich las das Schriftstück Korrektur, verbesserte einige Passagen, legte das Skript ihr wieder Form, ehe es dann später in die Post ging.

Es wurde Herbst. A. hatte inzwischen seine Anhörung bei der Außenstelle des Bundesamtes in der Steinsetzerstraße hinter sich gebracht und wartete auf seinen so genannten Asylbescheid. Der wurde auch mir dann irgendwann per Post zugesandt. Seinen Antrag hatte das Bundesamt als unbegründet abgelehnt. Er musste deshalb Klage erheben. A. erschien einen Tag nach dem Zugang des Schreibens bei mir im Büro. Ich erklärte ihm das weitere Prozedere und verlangte von ihm 500 DM für die Klageerhebung bei dem Verwaltungsgericht Bremen. A. zeigte sich zunächst ein wenig schockiert, weil er einen solchen Betrag natürlich nicht sofort und in einer Summe aufbringen konnte.
Eine Tag später erschien er mit einer ersten Rate in Höhe von 100 DM. Ich ließ für ihn eine Quittung ausstellen.

Noch am gleichen Tag formulierte ich die übliche Klage und stellte den üblichen Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage nach § 80 Absatz 5 Verwaltungsgerichtsordnung ( VwGO ). Beide Schriften reichte ich beim Verwaltungsgericht, dass damals noch im Altenwall residierte, ein.

Danach passierte zunächst gar nichts.

Das Ausländeramt wurde von dem Eingang der Klage informiert und stellte A. eine Duldung aus, die besagte, dass A. bis zur rechtskräftigen Entscheidung über sein Asylverfahren nicht abgeschoben werden darf. A. hatte damit keine Möglichkeit zu arbeiten. Er ging deshalb einer illegalen Beschäftigung nach. Mit dem dort verdienten Geld bezahlte er die Schlepper, die zirka ein Jahr später seinen Bruder nach Deutschland brachten.

Wieder wurde ich für A. tätig, denn er musste bei dem Vormundschaftsgericht für den minderjährigen Bruder einen Antrag auf Einrichtung einer Vormundschaft und die entsprechende Bestellung einreichen. Das kostete wiederum Geld. Ich verlangte von ihm erneut einen Vorschuss von 100 DM. Einige Zeit später erfolgte eine richterliche Anhörung zu meinem gestellten Antrag und sodann die Erteilung eines Betreuerausweises an den älteren Bruder des damals noch knapp 14jährigen Jungen.

Danach konnte ich auf für diesen einen Asylantrag stellen, denn er war nunmehr gesetzlich vertreten. Die Vollmacht hierfür ließ ich mir von dem älteren Bruder unterschreiben. Erwartungsgemäß wurde der Antrag nach der obligatorischen Anhörung in der Bremer Außenstellen des Bundesamtes abgelehnt. Ich reichte auch hier eine Klage ein.

Mittlerweile schuldeten mir beide Mandanten einen vierstelligen Gebührenbetrag, den der ältere Bruder jeweils mit 100 DM monatlich abstotterte. Er erschien dazu jeden Monat in meinem Büro und zahlte den Betrag bar.

Die Zeit verflog; es gingen Monate ins Land, außer das der Eingang der dann mit jeweils einem Aktenzeichen versehenen Klagen durch das Verwaltungsgericht Bremen bestätigt worden war, tat sich gar nichts. Der Mandant wurde mit jeder Ratenzahlung unruhiger. Ich erklärte ihm, dass die Gerichtsverfahren nach dem damaligen Stand mehrere Jahre dauern könnten, ehe es zu einem Termin und einer Entscheidung käme. Er gab sich schon bald nicht mehr damit zufrieden.

Eines Tages flatterte ein Schreiben eines Kollegen, der seine Kanzlei in der Innenstadt unterhielt und sich auf Asylrecht spezialisiert hatte, ein. Er gab mir darin zur Kenntnis, dass er die beiden slowenischen Asylantragsteller jetzt vertrete und bat um Herausgabe der Handakte. Ich schrieb ihm in meiner Antwort, dass ich dieses von dem Begleichen meiner Gebührenrechnung, die ich dem Brief anheftete, abhängig machen würde; wohl wissend, dass das erst in einigen Jahren der Fall sein könnte.

Die Jahre vergingen. Von dem einstigen Mandaten hörte ich nichts. Er wohnte auch nicht mehr in der Ludwig - Quidde - Straße; in der vormaligen Gemeinschaftsunterkunft für Asylbewerber. Der Brief mit der Zahlungsaufforderung, den ich verschickt hatte, kam mit dem Vermerk " Empfänger unbekannt verzogen " zurück. Ich legte die Handakte ab. An Geld von den beiden Slowenen war eh nicht mehr zu rechnen

Viele Monate später ging ein Schreiben des Verwaltungsgerichts Bremen bei mir ein. Dort las ich, dass der Bremer Innensenator für Asylbewerber aus dem ehemaligen Jugoslawien, die sich mindestens 5 Jahre ununterbrochen in Bremen aufhalten, deren Asylverfahren noch nicht rechtskräftig beendet waren und die bislang lediglich eine Duldung erhalten hatten, eine so genannte Härteregelung oder auch Altfallregelung getroffen worden sei. Sofern sie diese Kriterien erfüllen, wird ihnen auf Antrag eine zunächst auf zwei Jahre befristete Aufenthaltserlaubnis erteilt, wenn sie gleichzeitig die Klage gegen die Asylentscheidung zurück nähmen. Auf diese Regelung konnten sich die Asylantragsteller binnen eines halben Jahres berufen.

Das geschah zwar irgendwann in einem Sommer in den 1990er Jahren, doch es schien für einige Tausend Asylantragsteller wie Weihnachten zu sein.

Die beiden Slowenen konnten diese Bedingungen erfüllen. Doch, wieso schreibt das Verwaltungsgericht mich an, obwohl ein Kollege die Asylverfahren eigentlich weiter betreut? Nun, die Antwort darauf war so simpel wie einleuchtend: Der andere Rechtsanwalt hatte sich beim Gericht erst gar nicht als neuer Prozessbevollmächtigter gemeldet. Seine Vertretung bestand lediglich daraus, den beiden Mandanten weiterhin mehrere Hundert DM aus den Taschen zu luchsen.

Ich heftete die Mitteilung des Verwaltungsgerichts ab und ließ die Handakte zurück in den Stahlschrank legen. Danach geschah monatelang nichts. Ich hatte diese Rechtsfälle bereits wieder vergessen, als im Herbst eine Ladung zur mündlichen Verhandlung auf den 21. Dezember vor dem Verwaltungsgericht Bremen  angesetzt wurde. Unterhalb des DIN A4 - Papiers stand ein Zusatz: " Die Kammer weist daraufhin, dass der Kläger die getroffene Altfallregelung in Anspruch nehmen kann. Wird die Klage zurück genommen? "

Letzteres konnte ich nicht entscheiden, denn zu beiden Slowenen hatte ich keinen Kontakt mehr. Also musste ich abwarten.

Einige Tage vor Weihnachten und dem Verhandlungstermin vor dem Verwaltungsgericht Bremen besuchte mich der einstige Mandant in meinem Büro. Ich war gerade dabei, den Schreibtisch aufzuräumen und die Kanzleipost abzuarbeiten. Ich hatte ihn zunächst nicht wieder erkannt. Er trug jetzt die Haare etwas länger und zudem einen Bart. Er legte mir mein altes Schreiben vor, in dem ich die Schlussrechnungen gefertigt hatte. Es waren noch mehr als 600 DM offen. Der Slowene öffnete sein Portemonnaie und blätterte mir 6 Hunderter sowie einige kleinere Geldscheine auf den Tresen. Er wolle seine Schulden bezahlen und bat um eine Quittung.

" Was machen wir mit der Klage und der Ihres Bruders? ", fragte ich ihn. Der Slowene hatte inzwischen Deutsch gelernt und antwortet mir darauf hin, dass er den anderen Anwalt beauftragt habe und dieser sich darum kümmern werde. Er wirkte ein wenig arrogant. " Nein, der Kollege X hat sich beim Gericht nie gemeldet! ", erklärte ich ihm. Er sah mich ein wenig fassungslos an. " Nein? ", lautete seine Antwort. " Nein! ", gab ich ihm zurück. " Aber, ich habe doch längst meine Aufenthaltserlaubnis und arbeite seit mehr als zwei Monaten. ", ergänzte er.
" Ach, so? ", war meine Antwort hierauf.

Dann zeigte mir der Slowene seinen Pass. Tatsächlich war ein Aufenthaltsstempel darin enthalten.
" Und Ihr Bruder? ", wollte ich noch von ihm wissen.
" Der auch. Ich schicke ihn vorbei! ".

Der Mandant erzählte mir noch, dass er jetzt bei einer privaten Sicherheitsfirma als Schichtleiter arbeiten würde. Es war jener Dienstleister, der auch im Weserstadion sein Personal  als Ordnungsdienst abstellt. Die Firma war mir von daher ein Begriff.

Ich quittierte den erhaltenen Geldbetrag und wünschte ihm alles Gute und ein Frohes Fest. Er verließ offensichtlich leicht angesäuert das Büro. Er hatte sich nicht über die bezahlte Rechnung und mich geärgert, sondern über den anderen Rechtsanwalt, der ihm eine Menge Knete aus der Tasche leiern konnte, ohne dafür eine Gegenleistung zu erbringen.

Mit mehr als 600 DM in der eigenen Geldbörse ließ sich die einst erhobene Klage natürlich besser zurück nehmen. Ich setzte mich an den Computer und schrieb auf dem Kanzleibogen nur einen Satz:
" Namens und in Vollmacht des Klägers nehme ich die Klage zurück. "

Einen Tag später erschien auch der Bruder des Slowenen im Büro und beauftragte mich, seine Klage zurückzunehmen. Zuvor musste er aber noch eine Vollmacht unterschreiben, denn die durch seinen einstigen Vormund ( heute Pfleger ), nämlich seinen Bruder, konnte ich dieses nicht mehr vornehmen, weil der Mandant inzwischen volljährig geworden war.

So erklärte ich auch für den anderen Slowenen die Klagrücknahme per Fax an das Verwaltungsgericht Bremen. Die Richter der zuständigen Kammer waren darüber sicherlich froh, denn sie hatten bereits einige Tausend Klagen von Asylbewerbern vorliegen. So wurde denn der Verhandlungstermin 3 Tage vor Heilig Abend aufgehoben. An diesem Tag aber, hätten ohnehin keine Termin statt gefunden, denn sämtliche Gerichte - dieses nicht nur in Bremen - werden am 24, 12, eines jeden Jahres geschlossen, ob Werktag oder nicht - am 24. 12. finden keine Gerichtstermine statt.

So wird es immer bleiben.



JETHRO TULL - Another Christmas Song - Jethro Tull Christmas Album - 2003:

















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