Shocking Blue´s " Inkpot ", der Beatkeller und das Kalander Brett



Vor mehr als 48 Jahren verließ ich vorübergehend das Elternhaus, um meinen Wehrdienst in Munster / Lager abzureißen. Während ich mich dabei von vielen Gewohnheiten, wie ständiges Musik hören, längeren Haaren und Treffen mit Freunden verabschieden musste, hatte mein etwas mehr als 1 Jahr jüngerer Bruder sein letztes Ausbildungsjahr in Bückeburg angetreten.

In dieser Zeit lernte er eine Unzahl von Mädchen kennen. Im Gegensatz zu mir zeigte er sich dabei als nicht sehr zurückhaltend. Weshalb er auch bei jungen Damen landete, die ihm von der Schulausbildung und / oder dem Elternhaus betrachtet alle Male um einiges voraus waren. Es waren einige Real - und Oberschülerinnen darunter; andere hatten ein durchaus gut situiertes Elternhaus im Rücken, das es ihnen finanziell ermöglichte, viele Dinge zu tun, von denen wir nur träumen konnten. Darunter zählten Urlaubsreisen, modische Klamotten und ein nahezu anstrengungsfreies Leben außerhalb der Schule.

Mein jüngerer Bruder, der durch sein bestimmtes, mit heutigen Maßstäben eher machohaftes Auftreten, auch diese Mädchen mühelos um den Finger wickeln konnte, partizipierte glänzend von jenen materiellen Vorzügen, die ihm - je nach Dauer der mit diesen Damen eingegangen Liaison -  da kredenzt wurden.

Dann und wann beneidete ich ihn darum.

Während ich für das Volk, Vaterland und die Kapitalisten im Kampfanzug durch Teile der Lüneburger Heide gescheucht wurde, mir suggeriert werden sollte, dass die Bundeswehr eine notwendige, nur zur reinen Verteidigungszwecken gegründete Einrichtung sei und ich gefälligst das Denken den Pferden zu überlassen habe, weil die größere Köpfe besäßen, sondern nur die Befehle ausführen müsse, vergnügte sich mein Bruder im illustren Umfeld in der wahren Jugendzeit.

Irgendwann lernte er im Rahmen seiner Beutezüge ein Mädchen aus der Nachbarschaft kennen. Sie war Gymnasiastin in Minden. Dort wohnte sie zusammen mit einen jüngeren Bruder bei ihren Eltern. Der Vater war Besitzer eines größeren Autohauses. Ich meine, es wäre die einstige Nobelmarke mit dem Metallstern auf der Kühlerhaube gewesen. Ich meine ebenso, dass sie - wie nicht wenige in dieser Zeit - Petra mit Vornamen hieß. Das Nachbarmädchen war groß, schlank und ohne Brüste. Sie sah eher aus wie eine Bohnenstange, hatte - so meine heutigen Erinnerungen - lange, dunkelblonde Haare und trug - wie viele Jugendliche - ständig sehr enge Jeans, in denen sie noch dünner wirkte.

Nun, eigentlich entsprach sie nicht dem, von meinem Bruder favorisierten Frauenbild. Er bevorzugte eher etwas wohl Proportionierte. Dennoch schleppte er jenes Mädchen aus der Nachbarschaft an einem Wochenende in unseen selbst eingerichteten Beatkeller an. Ein Damenbesuch in diesem, sehr überschaubaren Umfang war von die Auflagen unserer Mutter gerade noch so abgedeckt. Übernachtungen indes wurden von dem Familien - Spieß, der sie nun einmal damals war, strengstens untersagt.

Damit war natürlich auch das Betätigungsfeld meines Bruders sowie die zeitliche Abfolge seiner Eroberungskünste klar abgegrenzt. Der eingerichtete Beatkeller bot indes eine Art Rückzugsgebiet, innerhalb dessen er sein - aus Sicht unserer Mutter - frevelhaftes, weil unerwünschtes Tun, unkontrolliert vornehmen und durchführen konnte.

Weil ich in dem Beatkeller meine Plattensammlung eingelagert hatte und die Vinylscheiben über eine klanglich eher suboptimale, denn zusammen geklaubte Stereoanlage in gerade noch erlaubter Lautstärke abdudeln durfte, zog es meinen Bruder nebst Begleitung auch hier hin.

Er beschlagnahmte in der Regel dabei die gesamte Breite und Länge der auf den Boden liegenden, von den Eltern ausrangierten Matratzen und warf eine Decke über seine Gespielin und sich.
Was er danach mit dieser so anstellte, blieb nicht nur mir im Verborgenen. Während ich hinter meinem Tresen ähnlichen Aufbau saß und dabei nicht nur die neusten Vinyl - Errungenschaften auf die beiden Plattenspieler legte, dimmte ich rücksichtsvoll das Kellerlicht herunter.

Wir waren weder von den Eltern, geschweige denn von der Schule aufgeklärt worden. Sexualität war dort ein absolutes Tabuthema.  Zu der damaligen Zeit gab es allerdings einige Ersatzinformationsquellen, wie beispielsweise das Organ der West - Jugend mit dem Namen " BRAVO ". Wo eine gewisser " Dr. Sommer " auf einer ihm eigens dafür zugeteilten Rubrik, die sich zumeist züchtig in der Mitte der aktuellen Ausgabe befand, über dringende und drängende Fragen der Pubertät, der Sexualität und der virulenten Gefahr des " Pille - Einnehmers "  fachkundige Antworten gab.

Mit diesem, eher unvollständigen Wissen sowie den Halbwahrheiten aus dem Umfeld des Freundeskreises wurden wir auf das jeweils andere Geschlecht los gelassen.

Nach einigen Wochen des Sich - Treffens war es zwischen der Nachbarstochter, deren Eltern einen Zweitwohnsitz in Form eines chicen Bungalows in Heeßen besaßen, der sogar einen kleinen Pool besaß, wieder vorbei. Mein Bruder interessierte sich nicht mehr für das Mädchen aus der Nachbarschaft, das wir inzwischen wegen ihrer Größe und der Flachbrüstigkeit " Kalander oder Kalanda - Brett " nannten. Es war für ihn war die kurze Bekanntschaft erledigt.

" Kalanda - Brett " schien dieses jedoch nicht so zu sehen. An den Wochendaufenthalten ihrer Eltern im üppig angelegten Haus in Heeßen, zog es sie regelmäßig in die Ortsmitte, wo sie dann stundenlang auf irgendeiner Parkbank saß. Einige Male war sie auch in Bückeburg zu sehen. Dorthin begleitete sie dann eine Schulfreundin aus Minden. 

Eines Tages klingelte sie in Begleitung ihrer Freundin bei uns. Ich hatte mich mal wieder auf mein Musik - Wochenende eingestimmt, dass ich gewöhnlich mit einem Bundeswehr - Leidensgenossen verbringen wollte. Weil ich mit diesem ab und zu auf LP - Einkaufstour ging, wollten wir meine Neuerwerbungen abends im Beatkeller hören.

Nun stand also " Kalanda - Brett " nebst - eher weniger gut aussehender Freundin - vor der Haustür des elterlichen Domizils und wollte doch tatsächlich von mir wissen, ob mein werter Herr Bruder zuhause sei. Meine Antwort war ein deutliches " Nö! ". Wo er denn sei, wollte die junge Dame noch wissen. " Weiß ich nicht. " antwortete ich ihr wahrheitswidrig und bereits leicht genervt , um aber gleichzeitig mit der Gegenfrage: " Warum? " zu kontern.
" Ich wollte mit ihm reden. ", gab die eher schüchtern wirkende Nachbarstochter mir zur Antwort. " Gut, ich sage es ihm. ", entgegnete ich ihr wiederum.

Dann drehten sich die beiden jungen Damen wieder um und gingen. Ich zog die Haustür hinter mich zu. Beim Heruntergehen in den Keller werde ich wohl gedacht haben, dass mein Bruder bestimmt irgendwo mit einer anderen jungen Lady sitzt und sich vergnügt.

Später erzählte ich ihm von dem unvorhergesehen Besuch. Er war - so meine lückenhaften Erinnerungen dazu - nicht sonderlich amüsiert. Ich hatte jedenfalls meine Pflicht getan und damit war für mich die Sache abgehakt.

Einige Zeit danach trafen mein damaliger mitleidender Wehrpflichtige Piet V. aus Bückeburg " Kalander - Brett " nebst Freundin zufällig in einer Bückeburger Kneipe. Nach einem kurzen Small Talk entschlossen wir uns, zum Musik hören in unseren Beatkeller zu fahren. Eigentlich wäre es die Gelegenheit gewesen, uns dort ein wenig zu vergnügen. Doch: Piet V. stand weder auf die Freundin von " Kalender - Brett ", noch auf sie selbst. Damit war klar, ich musste mein Glück allein versuchen.

An einem weiteren Wochenende trafen wir uns erneut im Beatkeller. Dieses Mal hatte " Kalander - Brett " ihre eigenen Schallplatten mitgebracht und bat mich, die auszulegen. Ich überlegte noch ein wenig, denn die Single, die sie uns übergab, waren nach grober Durchsicht, alles andere als unser Musikgeschmack. Es war eher Pop und Chartmusik. Darunter auch eine Single der niederländischen Band " Shocking Blue ", die ich selbstverständlich aus den Tagen als DJ im CVJM - Jugendheim in Bad Eilsen kannte. Die Single heißt " Inkpot " und ist ein eher ruhigeres, tanzbares Stück. Ich überließ deshalb  Piet das Platten auflegen und setzte mich zu den beiden jungen Damen. Wir plauderten noch eine längere Zeit miteinander, ehe sich die beiden Mädchen wieder von uns verabschiedeten, denn " Kalander - Brett´s " Eltern hatten ihr aufgetragen, gegen 22.00 Uhr wieder zuhause zu sein. Die Schallplatten ließ die Nachbarstochter zurück und wollte diese irgendwann wieder haben.

Wenig später traf ich sie zufällig in Bad Eilsen. Nach einem kurzen Gespräch entschloss ich mich sie nach ihrem wahren Anliegen zu fragen. Ich hatte nämlich längst geschnallt, dass es weder um Musik, noch um Piet oder mich ging, sondern um meinen Bruder. Sie rückte mit der Sprache heraus. Ja, sie wolle nur meinen Bruder wieder sehen. Aha, jetzt war völlig klar, warum sie sich mit zwei kurzhaarigen Bundeswehr - Soldaten einließ. Ich war zwar nicht sonderlich enttäuscht, doch irgendwie war mir von Beginn klar, dass alle Treffs mit uns nur darauf abzielten, meinen Bruder zu sehen. Dennoch verhielt ich mich loyal und erzählte ihr nicht, dass dieser längst eine andere Freundin am Wickel hatte.

Ich begleitete " Kalander - Brett " noch bis zu ihrem Elternhaus und sang unterwegs den " Inkpot " von " Shocking Blue ". 

 " Kalander - Brett " holte danach ihre Platten wieder ab. Ich sah sie nie wieder.


https://de.wiktionary.org/wiki/Kalander



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