Spotter läuft! 50 Kilometer am Tag!



Am vergangenen Wochenende fand der " Berlin Marathon " statt. Ein Großereignis; auch außerhalb der bundesdeutschen Hauptstadt mit seinen übe 3, 1 Millionen Einwohnern. Demgemäß waren auch viele Teilnehmer am Start. Gezählt wurden 34.879 aus 157 Nationen. Registriert wurde vor allem aber auch ein neuer Weltrekord. Gelaufen hat ihn ein Kenianer namens Eluit Kipchoge. Mit 2:01.09 Stunden; bei den Frauen siegte die Äthiopierin Tigist Assefa in 2:15:37 Stunden.

Bei den Männern belegte mit 2:05:58 der ebenfalls aus Kenia stammende Mark Koir den zweiten Rang.

https://de.wikipedia.org/wiki/Berlin-Marathon_2022

Während der kurzen Berichterstattung hierüber erinnerte ich mich an Erzählungen meiner Eltern, die irgendwann zu Beginn der 1980er Jahre einen dreiwöchigen Urlaub in dem Heimatland de beiden Läufe gebucht hatten und dorthin mit einer Chartermaschine aus Düsseldorf über Zürich nach Nairobi flogen. Vom Flughafen de kenianischen Hauptstadt erfolgte dann ein Bustransfer bis zu dem gebuchten Ressort, dass mindestens zwei Autostunden entfernt lag.

Für die westdeutsche und europäischen Straßenverhältnisse war diese eine wahre Tortur. Aber auch sonst zeigte sich das tägliche Leben in dem afrikanischen Land als befremdlich. Es gab und gibt es wohl immer noch keine verlässliche Infrastruktur. Außerhalb der von Europäern bauten Unterkunft waren nur die für große Teile Afrikas typischen, sehr kargen Landschaften zu sehen. Darin gab es aus Holz und Lehm bestehende Hütten. Die Dörfer, in denen nur wenige Menschen lebten, lagen oft Kilometer weit auseinander.   

In einem solcher Dörfer wohnte auch der kenianischer Mitarbeiter des Ressorts mit dem Nachnamen Spotter. Ein Mittzwanziger, der seinen Job als so genannte Servicekraft ausübte.  Spotter war dafür zuständig, dass es den zahlenden Gästen im Ressort auch gut geht. Er einigte die Liegestühle am Pool, legte ihnen Handtücher darauf, fegte die Flächen vom eingewehten Steppensand ab. Insbesondere aber zeigte sich Spotter für das leibliche Wohlergehen der  " Bwanas " und ihrer Frauen ( Mwanamka ) zuständig. Spotter schlug mit einer Machete gekonnt die reifen Kokosnüsse auf, schälte in Windes schnelle die massenhaft auf großen Tabletts liegenden Mangos ab oder mixte ihnen gekonnt einen Bananenshake. 

Spotter war ein Universalgenie, ein Alleskönner, ein Mann für alle Fälle eben. Spotter kletterte deshalb auch auf die im Areal stehenden Papayabäume, wo er mit eben einer Machte geschickt die Fruchtstauden abschlug und sie anschließend den Gäste mundgerecht servierte.   

Damit verdiente sich mit diesen Arbeiten einen für damalige, europäische Verhältnisse, kargen Lohn. Der aber ausreichte, um seine siebenköpfige Familie einigermaßen ernähren zu können. Die wiederum wohnte weit außerhalb des Ressorts in einem jener kleinen Dörfer. Spotte war seit einigen Jahren verheiratet und musste fünf Kinder und seine Frau versorgen. 

Ein Fahrrad konnte er sich nicht leisten. Von einem Moped oder gar Auto mal ganz zu schweigen. Weshalb Spotte jeden Tag die Strecke von seiner Holzlehmhütte bis zum Ressort, die er mit mehr als 15 Meilen ( 25 Kilometern ) angab, zu Fuß laufen. Der kenianische Allrounder Spotter lief diese Strecke von 50 Kilometern jeden Tag; egal, ob Sonn - oder Feiertag. Nur während seines Urlaubs lief Spotter die 50 Kilometer von seinem ärmlichen Zuhause bis zu seiner Arbeitsstelle, dem Ressort der weißen - für ihn - Reichen nicht. Dann kümmerte er sich um seine Mama, seine Frau und seine fünf Kinder.

Kenia ist, zirka 40 Jahre nachdem mir meine Eltern von ihren Urlaubserlebnissen berichteten, zwar zur neuntgrößten Wirtschaft auf dem Kontinent aufgestiegen, dennoch liegt das Durchschnittseinkommen eines erwachsenen Kenianers bei nur 634 US - Dollar; in 1997 waren es noch ( nur ) 651 US - Dollar pro Jahr.

Spotter wird zu Beginn der 1980er Jahre demnach wesentlich wenige verdient haben. In den Industrieländern war dieses ( ist es auch immer noch ) unter dem sozio - ökonomischen Begriff von " working poor " einzuordnen. Was in Kenia und beinahe allen afrikanischen Ländern vorherrscht, dürfte bereits vor Jahrzehnten auf noch mehr Bevölkerungsgruppen zutreffend gewesen sein, dass nämlich trotz eines Jobs, das Geld nie zur Bestreitung der Lebenshaltungskosten ausreicht.

Auch Spotter zählte zu jenen Arbeitenden, die von dem gezahlten Lohn nicht allein existieren konnten. Er übte deshalb eine weitere Tätigkeit aus, mit der er Holzschnitzereien an Touristen verkaufte. Es waren aus bearbeiteten und lackierten heimischen Hölzern hergestellte Imitationen von Masken, Trommeln und Speeren. Meine Eltern kauften ihm hiervon etwas ab. Sie gaben ihm auch ein - üblicherweise erwartetes - Trinkgeld. Damit besserte Spotter seine Haushaltskasse auf.

Ein sorgenfreies, ein angemessenes Leben, wie wir es kennen, war selbst damit noch nicht möglich. Spotter wurde in einem Land der Erde geboren, in dem mehr als 1/3 der Bevölkerung - immer noch - so arm ist, dass es unterhalb des errechneten Existenzminimums dahin vegetieren muss.

Der Sieger des " Berlin - Marathons ", der Landsmann Eluit Kipchoge wird vielleicht nicht - mehr - in einer derartigen Armut leben müssen. Er kann mit seinen läuferischen Fähigkeit Preisgelder und Werbeeinnahmen generieren. Ein Fahrrad wird er bestimmt schon längst haben. Einen PKW wohl auch. Er könnte finanziell betrachtet längst ausgesorgt haben. 

Nun, Spotter, der Läufer aus dem Ressort in der Wildnis nahe der Hauptstadt Nairobi, hatte diese Chance nicht, obwohl er auch ein sehr guter Läufer war. Er lief die knapp 25 Kilometer nach hause unter 1 1/2 Stunden. Damit erreichte er sein Haus noch vor Einbruch der Dunkelheit und Einsetzen des oft heftigen Regens. Spotter war ein Läufer, weil er eben laufen musste, um zu überleben.

An den Kenianer erinnerte ich mich gestern Vormittag wieder als wir unseren 10 Kilometerlauf von Zuhause starteten, es nach knapp 3 Kilometern zu regnen begann und wir pitschnass den Rest der Strecke dennoch bewältigen konnten. Die Zeit war nicht besonders gut. Mit 1:28:13 Stunden lagen wir weit unter dem erforderlichen Schnitt und dem, was wir uns für den nächstjährigen Halbmarathon auf dem Darß vorgenommen haben. 

Beim Duschen überlegte ich, warum die Welt immer noch so ungerecht ist. Wir Laufen hier in Freiheit und relativem Wohlstand aus Spaß - eventuell um die gefährlichen, viel zu vielen Pfunde in unserem Alter - erst nicht wieder auf den Buckel zu bekommen. Der arme Spotter lief jedoch, weil er nicht einmal ein Fahrrad besaß.

Das ist mehr als 40 Jahre her und doch so aktuell wie nie zuvor.


STRAY  -  Run, Mister Run!  -  Suicide  -  1971:




      

  

 

    

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