Lohntüte





Vor vielen Jahren, eher Jahrzehnten, als die elektronische Datenverarbeitung noch eine Fiktion war und Konrad Zuse an seinem Raum ausfüllenden Röhrenmonstren herum experimentierte, in jener Zeit, in der die industrielle Fertigung aber längst auf vielen Wirtschaftsbereichen auf dem Vormarsch war, wurden die Arbeiter, dass Proletariat also, nicht nur dem Diktat der Maschinen unterworfen, sondern dafür auch noch mies entlohnt.

Dieser Hungerlohn wurde dann wöchentlich zusammen mit der Lohnabrechnung in einer braunen Papiertüte dem Arbeiter ausgehändigt. Dieses geschah immer freitags. Und gerade jeden Freitag der Arbeitswoche standen dann Dutzende Frauen an den Werkstoren, um ihre Männer in Empfang zu nehmen. Aber nicht, weil sie sie nach hause begleiten wollten, nein, die Frauen und Mütter passten ihre Gatten deshalb ab, um die erhaltenen Lohntüten in Empfang zu nehmen. Diese wurden sofort vor den Werkstoren den Arbeitern abgenommen. Der darin enthaltene Lohn in bar verschwand, nachdem der Betrag durch die Ehefrau nachgezählt war, flugs in die Manteltaschen der wartenden Frauen.

Von ihrem Verdienst bekamen die Männern aber noch einen kleinen teil zurück. Nämlich nur soviel, um in der nahe gelegenen Kneipe einige Biere und Korn ( Schnäpse ) bezahlen zu können. Es war gerade soviel, dass der Arbeiter sich davon nicht vollständig betrinken zu können und auf jeden Fall den Weg zurück nach Hause fand.

Dieses Ritual spielte sich Woche für Woche, Jahr für Jahr ab. Viele verheiratete Männer mussten ihre Lohntüten sofort bei den wartenden Ehefrauen abgeben, damit sie erst gar nicht auf die Idee kommen konnten, sich in der Kneipe sinnlos zu betrinken und dadurch der oft vielköpfigen Familie während der folgenden Woche kein Geld mehr zur Verfügung stand, womit sie ihr Brot und andere Lebensmittel hätten bezahlen können.

Als mein Großvater aus dem Krieg kam, landete er irgendwann in Schaumburg - Lippe. Dort existierte die Glasfabrik H.Heye in Obernkirchen. Dort arbeitete er viele Jahre und erhielt just auf die oben beschriebene Weise seine Lohntüte. Mein Großvater trank gerne Bier, manchmal zu viel Bier. Nachdem er aus dem KZ kam, an den Nieren und der Blase erkrankte später dann noch mehr Bier.

Meine Großmutter Wilhelmine wusste das. So ging sie jeden Freitag über 7 Kilometer zu Fuß von Heeßen nach Obernkirchen, wo am Rande des Bückeberg die Glasfabrik lag und wartete dort vor dem Werkstor auf meinen Großvater, ihren Mann. Dem nahm sie sofort die erhaltene Lohntüte ab, gab ihm daraus einige Groschen, für die er sein Bier in der Kneipe kaufen konnte, und ging dann den langen Weg zurück nach Heeßen, wo beide in einem so genannten Gesindehaus, einem schäbigen Bau, in dem es rein regnete und wo im Winter die Scheiben mit einer Zentimeter dicken Eiskruste versehen waren, wohnten.

Irgendwann wurde mien Großvater als Kriegsinvalid und dann als Frührentner anerkannt. Er bekam eine kleine Entschädigung für die KZ - Haft und er kaufte davon meinen Eltern ein Baugrundstück in Heeßen. Die Zeit der Lohntüten war aber immer noch nicht vorbei.

Als mein Vater sich als Maurer bei verschiedenen Baugeschäften verdingte, gab es sie immer noch, die hellbraune Papiertüte, die oben an dem Falz einen Klebestreifen besaß, der dann angefeuchtet werden musste, damit die aufgebrachte Gummierung auch kleben konnte. In machen Lohnbüros wurde dieses mit einem eigens dafür auf dem Büroschreibtisch platzierten Klebekissen vorgenommen; oft reichte aber auch die eigene Spucke, der Speichel des Lohnbuchhalters oder seiner Mitarbeiterin aus.

Ab 1957 soll in der BRD die Barauszahlung von Löhnen und Gehältern nach und nach aufgegeben worden sein ( https://de.wikipedia.org/wiki/Lohntüte ). In der platten Provinz allerdings wurde bis weit in die 1960er  sogar bis in die 1970er Jahre das Arbeitsentgelt in bar und per Lohntüte ausgezahlt.

So erhielt ich vom Beginn meiner Lehre im April 1969 bis zu deren Ende im März 1972 die vertraglich vereinbarte Ausbildungsvergütung durchgängig in jener hellbrauen Papiertüte, in der sich dann der Lohn - und Gehaltsstreifen befand, auf dem neben dem Bruttoentgelt, die Abzüge ( Lohnsteuer, Krankenversicherungsbeiträge, Arbeitslosenversicherungsbeiträge, Rentenversicherugsbeiträge sowie der mögliche Arbeitnehmeranteil des prämienbegünstigten Sparens ) aufgeführt war.

Weil ich zu jener Zeit noch kein eigenes Konto besaß, wohl aber ein Sparbuch bei der örtlichen Sparkasse und später eines bei der Schaumburger Volksbank ( dieses eröffnete ich meiner Schwester zuliebe, die ab 1974 dort eine Bankkaufmannslehre antrat ), wurden die lumpigen 90 bis später 210 DM Ausbildungsvergütung je Monat in jener obligatorischen Lohntüte ausgezahlt. Dazu war es erforderlich, dass ich über eine knarrende Holztreppe des Wohn - und Geschäftshauses des Ausbildungsbetriebs hoch ging, um bei dem im 2. Stock thronenden Lohnbuchhalter M. diese Tüte in Empfang zu nehmen. Es war ein Gang nach Canossa, denn ich war einst weder sehr selbstbewusst, noch lebenserfahren genug, um diese als Demütigung, als Bettelei besehene Handlung, ausschließlich als ein mir zustehendes Recht zu verstehen. Schließlich hatte ich den im März 1969 abgeschlossenen Ausbildungsvertrag durch meine ständige Anwesenheit als Billigheimer ( nahezu kostenlose Arbeitskraft ) längst erfüllt. Die Ausbildungsvergütung wurde nämlich nur nachschüssig, also zum Monatsende ausgezahlt.

Als ich dann zirka 2 Jahre nach Ausbildungsende für einige Monate als Einzelhandelskaufmannsgehilfe bei der Firma Altenburg in Bückeburg  angestellt war, gab es jene Lohntüten bereits nicht mehr. Ich besaß mittlerweile ein Girokonto bei der Volksbank in Bad Eilsen, auf das dann mein Gehalt ( es waren um die 800 DM ) überwiesen wurde.

Die Lohntüte war nun auch in der Provinz, auf dem platten Lande, für immer abgeschafft. Sie gehörte der Vergangenheit an. So, wie jene Begebenheit rund um ihre Einführung und das oft dramatische, familiäre Drumherum.

Wären jene Frauen, Mütter oder gar Großmütter nicht zu den Werkstoren der Fabriken gepilgert, um den Männern dort die Lohntüten abzunehmen, so manches Kind - von denen gab es sehr viele - hätte jede Woche hungern müssen, weil der " Alte " den Lohn " versoffen " hätte.

Mehr als 60 Jahre nach der Abschaffung der Lohntüte, zolle ich jenen couragierten Frauen dafür  immer noch großen Respekt, denn sie waren damals de jure und de facto rechtlos und Menschen zweiter Klasse.





JULIAN´S TREATMENT -  A Time Before This - 1970:





Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

" Eine Seefahrt, die ist lustig. " - nur nicht in den 60er Jahren zum AOK - Erholungsheim auf Norderney.

" Oh Adele, oh Alele, ah teri tiki tomba, ah massa massa massa, oh balue balua balue. " und die Kotzfahrt nach Wangerooge.

Widerspruch zwecklos!