Das weiße Kaninchen von Prerow


Die letzte Urlaubswoche ist angebrochen. Bislang war dieser - allerdings nur vom Wetter aus betrachtet - eher durchwachsen. Aber, wir wollen nicht - wie die Sachsen - immer meckern. Schließlich nennt sich der Aufenthalt auf dem Darß auch Aktivurlaub. Dabei spielt das Wetter nur eine untergeordnete Rolle. Oder um es mit den Worten eines davon gegerbten Norddeutschen auszudrücken:

" Es gibt kein Schietwetter, es gibt nur schlechte Kleidung! " ( Oder so ähnlich? )

Während wir bei zirka 16°  C ein Lauf - Experiment wagten und die Strecke von der Küsters - Allee zum Leuchtturm Darßer Ort in Angriff nahmen, klarte es dabei zunehmend auf und die Sonne blinzelte durch den herbstlich werdenden Wald. Mit zunehmender Laufzeit wurde es bald voller. Die beliebten Kremserfahrten starteten, Fußgänger begegneten uns und natürlich Kohorten von Radlern. Die Eisgrauen versammelten sich mit uns am Leuchtturm. Der Rückweg viel uns dann - nach einer zirka halbstündigen Rast - erstaunlicher Weise leicht.

Immerhin konnten wir danach bei kühlen 8 ° C in der Nacht und immer offenen Fenster gut schlafen. 

Für meine bessere Hälfte war die Nacht jedoch ab zirka halb vier zu Ende. Sie musste das stille Örtchen aufsuchen. Dabei schaute sie - so ganz nebenbei und noch schlaftrunken - aus dem Küchenfenster. Der relativ helle Schein der nur einen Steinwurf entfernt aufgestellten Laterne spendete ausreichend Licht, um nicht über irgendein Gerödel, dass in der eher kleinen Ferienwohnwohnung versprengt abgelegt wurde, zu stolpern. Sonst wäre sie vor Erstaunen eben über jene am Boden liegende Gegenstände gefallen. 

Einen halben Meter neben dem Laternenmasten saß ein Kaninchen. Irgendeines dieser eher scheuen Lebewesen, deren Nachtaktivität ja bekannt ist. Dann, wenn der Mitkonkurrent um Platz und Fläche, der böse Mensch, seit Stunden ruht oder schläft, kommt ihre Zeit. Sie verlassen ihren Bau, den sie irgendwann, irgendwo im feinen Sand eingegraben haben und begeben sich auf Nahrungssuche. In einigen Wochen des Jahres auch auf Partnersuche.

Wildkaninchen sind hier - mit einigem Glück - aber auch tagsüber anzutreffen. Wer - verbotenermaßen - die vorgeschriebenen Rad - und Wanderweg verlässt, bekommt sie vielleicht kurz zu Gesicht, ehe das scheue Tier aufgeschreckt davon hoppelt. Ich hatte eben jenes Glück und beobachtete einige Kaninchen rund um das Gelände des ehemaligen Ferienlagers, das sich - immer noch - visavis zum " Regenbogren Camp " am Bernsteinweg in Prerow befindet.

Doch diese Tier hatten hellbraunes Fell. Das Kaninchen, was meine bessere Hälfte in den frühen Morgenstunden zufällig sah, war nahezu schneeweiß. Ein weißes Kaninchen?

Und gerade diese Frage stellte mir meine bessere Hälfte nach der Rückkehr. Gibt es eigentliche weiße Hasen? Nein! Aber weiße Kaninchen. Und just so ein Tier hatte sie gesehen. Wir waren beide hellwach. Plötzlich kamen uns Erinnerungen aus unserer Kindheit. Wir erzählten uns von der Kaninchenhaltung in den frühen bis späten 1950er Jahren. Als viele Menschen ein eher armseliges Leben führen mussten, weil der verbrecherische Krieg, der von Deutschland und seinem " Führer " ausging, ihnen beinahe alle Dinge des einfachen Lebens genommen hatte.

Kaninchenfleisch wurde da zu einem Festtagsbraten zubereitet. Jene Tiere, die massenhaft in viel zu engen Ställen gehalten und nachdem sie fett gefüttert waren, geschlachtet wurden, was uns Kindern, die sie niedlich, süß und lieb empfanden, nicht gefiel und auch nie erklärt werden sollte. Kaninchenfleisch, zuvor in Saurer Milch eingelegt, dabei mit Salz und Pfeffer abgestreut, war für viele hungernden Menschen zu einer Delikatesse geworden. Das war allerdings nur an Sonn - und Feiertagen der Fall. In der übrigen Zeit gab es selbst zubereiteten Eintopf aus eigens dafür angepflanzten Erbsen, Bohnen und Steckrüben. Manchmal mit Rippchen, wenn Wochen vorher ein Schwein geschlachtet wurde.

Meine Eltern hielten in jener Zeit auch Kaninchen, die in Ställen im Haus dahin vegetierten. Waren sie groß und fett genug, wurden sie geschlachtet. Jahre später existierte nur noch ein Kaninchenstall, der am Schuppen stand. Hierin befand sich eine Zippe, die wir " Rosi " nannten. Nicht deshalb, weil sie ein rosafarbenes Fell hatte, sondern weil " Rosi " uns an eine Schülerin erinnerte, die feuerrote Haare hatte, aber sonst leichenblass aussah. " Rosi " war nämlich ein weißes Kaninchen. Nur die Nase war schwarz. " Rosi " war in ihrer " Villa ", die wir so bezeichneten, weil es ein sehr großzügig gebauter Stall war, eines Tages nicht mehr alleine.

In der " Villa Rosi " lagen in der letzten Stallecke in einem Nest aus weißem Fell und Stroh vier Kaninchenjunge. Der braune Rammler von nebenan hatte " Rosi " gedeckt. Unser Vater wunderte sich zunächst, wie dieses geschehen konnte, weil der braune Rammler eigentlich nicht durch die verdrahtete Tür des Stalls von " Rosi " gekommen sein. Ebenso wenig konnte der Rammler über das Dach eingestiegen sein, denn das hätte bedeuten müssen, dass der Kaninchenbock aus seiner Stallhälfte auf das Dach gesprungen wäre, um von dort aus in die Stallseite der Zippe zu gelangen. Doch dort waren keinerlei Spuren zu erkennen.

 Das Geheimnis der unbefleckten Empfängnis von " Rosi " lüftete unser Vater dann aber doch. Der Bock hatte mit seinen starken Nagezähnen am äußerten Ende des eigenen Stalls ein Faust großes Loch in das Fichtenholzbrett genagt und war so in den Stall von " Rosi " gelangt. Nachdem er " Rosi " beglücken durfte, verdeckte er das Loch geschickt mit Stroh, womit dieses nicht sofort zu erkennen war.

Die Natur stellt den Vermehrungstrieb so stark ein, dass dieser selbst vor Hindernissen keinen Halt macht und Tiere zur Überwindung dieser sehr erfinderisch und intelligent vorgehen.

Somit wurde " Rosi " trächtig und warf jene vier Jungen, die später so schnell verschwanden, wie sie gekommen waren. Auch der braune Kaninchenbock ward danach nicht mehr gesehen. Wohin unser Vater die Tiere gebracht hatte, erfuhren wir von ihm nie. Wir trauten uns aber auch nicht ihn danach zu fragen. " Rosi " gab es später auch nicht mehr. Die Zippe verschwand ebenfalls und von uns völlig unbemerkt. Der leere Kaninchenstall wurde zersägt und das Holz in den Kohleöfen mit verfeuert. " Rosi " war das letzte Kaninchen, das auf dem Grundstück gehalten wurde. 

Die Zeiten hatten sich geändert. Vielen Menschen ging es materiell besser. Die Hungerjahre nach Kriegsende und in den 1950er Jahren waren alsbald nur noch Geschichte. Kaninchenfleisch war bald kein Sonntagsbraten mehr, sondern sogar eher verpönt. Der Kunde konnte es nur noch in einem Fachgeschäft für Wild und Geflügel in Bückeburg kaufen.

Doch die Kaninchen hatten damit kein besseres Leben. Die zunehmende Verdrängung ihrer Lebensräume durch den Menschen sowie die industrielle Landwirtschaft ließ ihre Population drastisch zurück gehen. Zwar sind die Wildkaninchen noch nicht vom Aussterben bedroht, wohl aber gefährdet. In vielen Regionen Deutschlands sind sie gar nicht mehr zu sehen.

Das trifft jedoch nicht für die Halbinsel Fischland - Darß - Zingst zu. Das ist sehr erfreulich. Und weiße Kaninchen gibt es wohl auch hier noch, sonst hätte meine bessere Hälfte keines von ihnen in den frühen Morgenstunden gesehen.

         

JEFFERSON AIRPLANE  -  White Rabbit  -  1967:





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