Auf den Carbonrahmen, die Knochen von Tausend Jahren!



Gestern war Mittwoch. Mittwoch, der 15. September 2021. Unser diesjähriger Urlaub war zur Hälfte herum. Nur noch 11 Tage, dann treten wir wieder die über 800 Kilometer lange Heimreise an. Bis dahin verbleibt aber noch ein wenig Zeit, um die gesunde Ostseeluft einzuatmen, sich zu bewegen und vor allem, die Ruhe zu genießen. Soll heißen: Sich zu erholen!

Erholen? Erholung, wovon, von was, von wem?

Wir sind ja seit mehr als 2 Jahren Rentner. Wir haben Zeit! Wir müssten eigentlich jeden Tag Erholung haben. 

Tatsächlich verbleibt zwischen dem Tagtäglichen, den Routinieabläufen, dem eher grauen Alltag und dem damit verbundenen Einerlei und einem Aufenthalt in einem Feriengebiet dennoch ein großer Unterschied. Der Drang, aus dem eher engen, zeitlich begrenzten Besuchsfenster in dem Ostseebad Prerow, ein Maximum an Erlebnissen heraus zu kitzeln und damit jeden Tag irgendwie zu optimieren, er liegt bei einem so genannten Aktivurlaub sehr nahe.

Vor einigen Tagen beobachteten wir beim Pilze verarbeiten eine junge dreiköpfige Familie. Sie fuhren mit zwei - mutmaßlich gemieteten - Fahrrädern und einem der standardisierten Anhängern, aus Richtung Zingst kommend, zu ihrer Unterkunft zurück. Die junge Frau gab das Tempo vor, der Mann fuhr mit seinem Drahtesel und dem Anhänger, in dem sich vielleicht ein Kleinkind befand, in einem größeren Abstand hinterher. 

Ein nur allzu typisches Bild in den Urlaubstagen. Die junge Familie, beide Erwachsene schätzungsweise um die 30 Lenze alt, hatte mit ihrem Ausflug Glück, denn das Wetter blieb stabil. Also, um die 20 ° C und trocken. Kein Lüftchen wehte an jenem Samstagnachmittag. 

Sicherlich, diese Radtouren sind, wenn das Fahrradfahren sonst eher ein Fremdbegriff im Alltäglichen bleibt, durchaus anstrengend. Trotz der High - Tech - Chaisen, die von mehr als einem Dutzend Geschäften im Ort für relativ wenig Geld zur Miete angebotene werden, muss der Fahrer ordentlich in die Pedalen treten, um mit der ab 10.00 Uhr auf den angelegten Radwegen von Ost nach West strömenden Meute mithalten zu können. Allerdings muss der eher ungeübte Radler jenes aberwitzige Sich - auf - dem - Rad - beweisen -nicht mitmachen. 

Das junge Paar nebst Anhang im Hänger allerdings bolzte ein Tempo, dass Rückschlüsse zuließ, wonach diese nicht dazu zählen konnten, denn die an der Tete fahrende, schlanke Frau trat ordentlich in die Pedalen. Dem Herzallerliebsten indes gefiel soviel sportlicher Ehrgeiz überhaupt nicht. Während sie noch die Vorzüge ihres Aktivurlaubs lauthals heraus posaunte und nahezu jauchzend den wunderbaren Aktivurlaub lobpries, fiel seine Bewertung hierzu eher kritisch aus: " Morgen ist aber endlich Ruhetag! " Er sprach diesen Satz mit einem drohenden Unterton aus, um damit wohl seinen festen, seinen eisernen Willen zu bekunden, dass er von den Schweiß treibenden Aktivitäten mehr als genug hatte.

Ich amüsierte mich. schaute den beiden Radlern noch kurz hinterher, um mich dann wieder unseren Pilzen zu widmen. Auch das Suchen der wohl schmeckenden Wald - und Wiesenbewohnern ist durchaus mit sehr viel Laufarbeit verbunden. Da können schon mal einige Kilometer zusammen kommen.

Allerdings muss ich mich dabei nicht ständig beweisen und den imaginären Konkurrenten zeigen, dass ich das bessere Velo gemietet habe, mit dem ich dann mein schlechtes Gewissen ob der vielen überflüssigen Pfunde für einige Stunden beseitige, denn ich bewege mich jetzt mit oder auf dem Rad und verbrenne dabei tatsächliche einige Kalorien ( die allerdings beim abendlichen Mahl wieder hinein gefuttert werden ).

Ja, der Ostsee - Darß - Urlauber ist in der Tat eine besondere Spezies. Er stellt eine Mischung zwischen Natur liebhabenden Menschen, der in seinen Bemühungen, seinen Egoismus bei der Reisegestaltung nicht ständig zu Lasten der Umwelt durch zu setzen, nicht nach lässt; andrerseits aber die die Wohltaten der Industriegesellschaft nicht verzichten möchte und dabei auch im Urlaub einer deftigen Ernährung dabei regelmäßig abhold bleibt. 

Wenn die Vorsaison eingeläutet ist erscheinen sie in Scharen, jene ergrauten Menschen, die ihrem Bewegungsdrang alsdann freien Lauf lassen und auf den gemieteten, hoch gepimpten Drahteseln die blühende, grünende Natur zu bestaunen, die hiesigen Wälder unsicher zu machen und die dort eher holprigen Rad - und Wanderwege zu bevölkern. Dann wird ordentlich gestrampelt, gelenkt und - wenn es unbedingt sein muss - auch geschoben. Ganze Pulks der Eisgrauen sind dabei zu beobachten. Sie cruisen hierbei vom Strandseiten zu den Bodden, vom Westen zum Osten, von Zingst nach Prerow und von dort nach Ahrenshoop und noch viel weiter nach Dierhagen. Es wird geradelt, was das hoch moderne Velo her gibt - bis zum Herzinfarkt.

Für einige, nur sehr wenige Tage im Jahr bleibt der SUV - Klotz eine reine Nebensache, der Mittelklassewagen von Mercedes, BMW oder VW parkt jetzt, der vielleicht mühsam kreditierte Nissan, Renault, Toyota, steht nun abseits des täglichen Geschehens blitz - blank geputzt in der Sonne. Jetzt ist das profane Fortbewegungsmittel auf zwei Rädern, zwei Handbremsen und mindestens 24 Gängen ( oder wesentlich bequemer mit Elektromotorantrieb ). Radfahren, bis der Arzt kommt?

Da standen wir vor einem jener uns längst bekannten Bekleidungsgeschäfte in der Fußgängerzone des zirka 3.100 Einwohner zählenden Badeortes Zingst und stellten - eher nicht verwundert - fest, dass an jenem frühen Nachmittag Massen unterwegs waren. Auch an diesem Tag muss die Einwohnerzahl des Ortes bestimmt an die Grenze von 10.000 heran gekommen sein. Okay, in unserem Freistaat Bayern waren bis zum 12. September noch Ferien. Auch in anderen Bundesländern endeten diese erst zu Beginn des laufenden Monats, doch das dürfte nicht der Grund dafür gewesen sein, dass sich solchen Menschenmassen sich in dem Ort tummelten. Es wird wohl eher an dem noch relativ stabilen, weil regenfreien Wetter gelegen haben.

Während meine bessere Hälfte die Auslagen jenes Geschäfts inspizierte, beobachtete ich ein Gruppe Radler, die von der Deichseite aus kommend, mitten in das Menschengewühle hinein fuhren. Die Truppe, gezählte 14 Weiblein und Männlein umfassend, hatte sich offensichtlich verfahren. Unsicher eierten die Radler zwischen den Passanten hindurch, drehten dabei um und versuchten in die entgegen gesetzte Richtung wieder los zu fahren. Es gelang jedoch nur einigen. Die Mehrzahl musste absteigen, was bereits mit erheblichen Unsicherheiten verbunden war sowie sichtbare Probleme bereitete. Eine der älteren Damen wäre fast dabei gestürzt.      

Das waghalsige Wendemanöver, der alten, grauen Fahrradfahrer irritierte wiederum die meisten Fußgänger, die sofort wie von einer Tarantel gestochen auseinander stoben. Einem Radler wurde die Situation peinlich. Er meckerte lauthals herum und pflaumte dabei seine vor ihm, ihr Rad nur mühsam herum würgende Frau an. " Warum fahren wir hier rum? Wenn man den Weg nicht mehr weiß, muss man vorher absteigen! Wie wäre es denn, man guckt sich den Weg auf der Karte vorher an? " Seiner Begleiterin wurde wiederum sein Gezeter unangenehm. Sie hielt mit den Worten, er solle sich nicht so aufregen und es wäre besser gewesen, er hätte sich selbst die Route angesehen, lautstark entgegen.

Kurz darauf waren die irrlichternden, schon betagten Damen und Herren aus meinem Blickfeld entschwunden. Ich grinste innerlich, weil mir nach dem Schauspiel der Gruppe ein Slogan aus den wilden, den bewegten Jahren der studentischen Protestbewegung einfiel, der da lautete:

" Unter den Talaren, der Muff von Tausend Jahren. "

Während ich die Irrfahrer genauer betrachtete und dabei deren Alter einzuschätzen versuchte, gelangte ich zu dem Ergebnis, dass diese just in jener Zeit ihre Jugend erlebt haben könnten. Was bedeutet: Alle waren mindestens um die Mitte 70. Nach Adam Ries also, über 1000 Jahre alt. Ich schilderte meiner besseren Hälfte meine Beobachtungen und reimte dazu:

" Auf dem Carbonrahmen, die Knochen von Tausend Jahren! "

Wir mussten lachen - immerhin schaffen wir es im kommenden Jahr auch auf 138 Lenze!      


CIRCUIT  RIDER  -  How Long  - 1971:


  



   

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