Geschichten aus der Straßenbahn - 2. Episode: Die rauchende Kranke, die notgeile Bekloppte, der fluchende Fahrer: " So ein Scheißladen! "



Der Winter hat uns dann doch in den Griff bekommen. Zwar nicht in den Würgegriff, so wie in den USA, Österreich oder in Italien, aber, immer es ist nachts kalt- Heute waren es um die - 6 ° C.
Als ich heute Nachmittag mich in Richtung Kesselsdorfer Straße aufmachte, um für unser Katzen - Quartett das von ihnen heiß geliebte " Kitten " - Trockenfutter bei " MäcGeiz " zu kaufen, zog ein kühler Wind über die Dölzschener Straße. Ich zog die wärmende Jacke noch etwas höher zu und drückte den Schal an meinen Hals heran.

Über die furchtbaren Gehsteige, deren Krater artige Unebenheiten mich jedes Mal laut fluchen lassen, ging ich weiter in Richtung Clara - Zetkin - Straße ( ob es diesen Straßennamen in einigen Jahren noch geben wird, wenn sich die CDU - Ideologen vom Schlage des thüringischen Meisters der Vereinfachung, Schlichting, wage ich zu bezweifeln ). Hier werden die Fußwege zwar etwas besser, aber der kalte Wind begleitete mich immer noch.

In Höhe der Kreuzung zur Bünaustraße stellte ich mich an den Rand des Zebrastreifens. Ein PKW nahte, bremste und hielt doch tatsächlich an. Ich hob die linke Hand zum Autofahrergruß und bedankte mich. Dann bog ich in die Bünaustraße ein. Der Wind ließ beträchtlich nach. Auch kam es mir hier ein wenig wärmer vor. Es mag aber auch daran gelegen haben, dass meine schon etwas betagten Glieder bei leichter Anstrengung Achsel - und Fußschweiß absondern. So, wie es damals auch war, wenn ich mit den beiden schweren, schwarzen Pilotenkoffern in Richtung des Heidkruger Bahnhofs tapste, um dort den RE ( Regionalexpress ) nach Bremen zu erreichen, von wo ich ab Hauptbahnhof eben die mir längst bekannten Straßenbahnen nahm, um nach Hastedt zu gelangen.

Einige Male fuhr ich allerdings mit dem RE, der zirka eine halbe Stunde später von Oldenburg und nicht aus Nordenham in Heidkrug hielt und der mich dann nach etwa einer Viertelstunde, also so kurz vor 8.30 Uhr, am Bremer Hauptbahnhof ablud. Von dort dauerte es weiter 15 Minuten ehe ich an der Domsheide ankam. Wenn ein Gerichtstermin ab 9.00 Uhr anberaumt war, hatte ich damit noch genügend Zeit, um in die Handakte zu sehen.

Zumeist endeten diese 9.00 Uhr - Termine sehr schnell. Deshalb konnte ich ab 9.15 Uhr oder leicht später die nächste 2, 3 oder 10 in Richtung St. - Jürgen - Straße nehmen, wo ich eventuell umsteigen musste. Bei winterlichen Wetter war es eben in den Zügen wärmer als im Gerichtsflur oder gar draußen vor der Hauptpost an der Domsheide. Ich nahm deshalb die nächst beste Straßenbahn und zuckelte mit ihr los.

An einem dieser kühlen Wintertage stieg ich an der St. Jürgen - Straße aus der 3 aus und wartete zirka 2 oder 3 Minuten bis eine 2 heran nahte. Rumpelnd, quietschend und knarrend drückte sich der ocker - gelbe Zug über das Gleisbett und hielt schnarrend an der linken, stadtauswärtigen Seite der Verkehrsinsel an der St. - Jürgen - Straße an. Die Türen ploppten auf. Ich stieg ein. Der Zug war beinahe leer. Ich setzte mich an einen 2er - Sitz, öffnete meinen älteren Pilotenkoffer und zerrte die neuste Ausgabe des " SPIEGEL " heraus. Dann begann ich mit dem zuletzt gelesen Artikel über irgendein Schurkenstück aus der realen Welt, jenseits der Akten, die in den beiden Koffern schlummerten.

Die 2 ächzte los und bewegte sich knarrend - knirschend, jede leichte Verwerfung der Gleise mitnehmend in Richtung Malerstraße, wo ich aussteigen wollte, um die 150 Meter bis zum Büro zu Fuß zu gehen. Irgendwann, so zwischen der Haltestelle Am Hulsberg und Bei den Drei Pfählen ( https://www.bsag.de/fileadmin/user_upload/pdf/linie_2.pdf ) zog mir leicht beißender, aber stark riechender Tabakqualm in die Nase. " Da raucht doch Einer! ", war mein erster Gedanke. Doch ich konnte den Missetäter nicht sehen. Der Gestank wurde intensiver. Ich suchte verzweifelt nach dem Gesetzesbrecher, denn Rauchen war in den Bussen und Bahnen der BSAG längst untersagt. Wer beim Qualen von einem Kontrolleur oder einem pflichtbewussten Fahrer ertappt wurde, konnte ab der nächsten Haltestelle zu Fuß weitergehen, Weigerte sich der Übeltäter erschien manchmal auch die Polizei, die im schlimmsten Fall eine Ordnungswidrigkeitenanzeige stellte.

Das war allerdings nur graue Theorie. Die Praxis sah eben so aus, dass in den schwach ausgelasteten Zeiten und insbesondere in dem zweiten Wagen des Zugs, fleißig geraucht wurde, ohne dass sich ein anderer Fahrgast darüber beschwerte. Doch ich wollte die Belästigung nicht länger ertragen und ließ meine gestrengen Blick in sämtliche Richtungen schweifen. Nein, der Raucher war nicht auszumachen. Der Gestank war jetzt unerträglich. Ich steckte meinen " Spiegel " wieder in den älteren Pilotenkoffer,  stand auf und wuchtete die beiden Aktenkoffer in Richtung der nächsten Zugtür. Dann drückte ich den Halteknopf. Wir waren bereits kurz vor der Haltestelle Ludwig - Quidde - Straße, als ich endlich den Raucher dingfest machen konnte.

Es war aber kein Raucher, sondern eine Dame, die dort qualmte. Sie sah aus, als habe sie gerade einer Hauptrolle in einem der 1950er Jahre - Filme bekommen. Sie trug, wie die einstigen Frauen von Welt damals auch, ein farbiges Seidenkopftuch. Darunter hatte sie ihre dunkelblonden Haare versteckt, die jedoch oberhalb der Stirn leicht hervor lugten. Dazu hatte sie sich eine durchaus elegante Sonnenbrille aufgesetzt. Die Raucherin war in einem modischen, schmutzig - grauen Trenchcoat gehüllt. Sie hatte tatsächlich das Outfit einer 50er - Jahre Film - Frau. Damals waren diese Bekleidungsstücke, insbesondere das obligatorisch, dann auch noch züchtig getragene Kopftuch absolut im Trend. Da stelle ich mir doch die Frage, was die AfD - Hetzer gegen Kopftücher haben?

Aber, egal, dieser Modetrend war an diesem kühlen Werktag in einem frühen 1990er Jahr längst mega - out. Doch die Raucherin trug eben jenes Qutfit. Ich sah mir ihre gelblichen Finger an, die dann die Zichte in Richtung Mundwinkel hoben. Sie zog nervös an dem Glimmstengel herum und pustete den inhalierten Rauch wieder aus ihrem Mund. Sie hatte irgendeinen rötlichen Lippenstift aufgetragen, der sich stechend vor ihrem ansonsten sehr blassen Gesicht abhob.
Die Raucherin machte auf mich den Eindruck einer Gehetzten. Einer Frau, die ich aus der " Geschlossenen " in Bremen - Ost oder auch aus Steinbergen oder aus Oldenburg - Wehen her kannte. Einer psychisch kranken Person, eben.

" Hier wird nicht geraucht! ", bellte ich los, nachdem der Zug an der Ludwig - Quidde - Straße anhielt. Noch bevor die beiden Türflügel der Straßenbahn aufklappten, schrie sie mich an: " Du altes Arschloch! "
" Sei vorsichtig, was Du sagst, sonst gibt´s ne Anzeige ! ", antwortete ich in einem Kasernenhofton. Der Straßenbahnfahrer blickte in seinen Innenspiegel und nickte wohlwollend. Er muss die Raucherin längst im Visier gehabt haben, hatte aber offensichtlich keine Lust, sich mit der Kranken anzulegen. Vielleicht kannte er sie bereits von anderen Fahrten und hatte es aufgegeben, sich mit ihr zu streiten.

Ich stieg aus. Dabei grummelte ich einige Verwünschungen, die aus dem Gossenjargon kommen und die mir natürlich wohl bekannt waren. Doch ich war Anwalt und kein klassischer  Gesetzeshüter und mit solchen Kranken ließ ich mich schon gar nicht ein. Diese Dispute gehen so, wie das Hornberger Schießen aus oder, wie die berühmt berüchtigte Dienstaufsichtsbeschwerden, nämlich " formlos - fristlos - fruchtlos ".
                                                                                 A)
Voila´ich war dem verqualmten Zug der BSAG - Linie 2 entronnen, schleppte die 20 Kilogramm Akten bis zum Büro und war froh, dass mir die Psychos nicht jeden Tag begegnen.

An einem anderen Tag fuhr ich mit der 10 von der Malerstraße über die Domsheide in Richtung Hauptbahnhof. Ich hatte - so wie an jeden anderen Werktag auch - meine beiden Pilotenkoffer und den " Spiegel " dabei. Gegen 15.00 Uhr war die Bahn bereits voll. Mit jeder  Haltestelle stiegen mehr Fahrgäste ein als aus. Bereits hinter der St.- Jürgen - Straße war an Lesen nicht mehr zu denken. Ich rollte den " Spiegel " zusammen und wartete darauf, dass der Zug an der Domsheide die Massen wieder ausspucken wird. Doch zuvor zwängte sich an dem Stopp " Vor dem Steintor " eine Gruppe von mindestens 15 geistig Behinderten nebst drei Betreuerinnen in die schon rappelvolle Bahn. 

Diese schoben sich in Richtung des Fahrers und somit auch an meinen Platz vorbei. Ich beachtete die Truppe zwar nicht, aber dennoch bekam ich es mit einer der Behinderten zu tun. Diese beobachtete mich die ganze Zeit und drängte sich an meinen Sitz heran. Die etwas unförmig aussehende junge Frau sprach mich an und wollte sich bei mir auf den Schoss setzen. Bevor sie es aber machen konnte, wurde sie von einer Betreuerin, die diese Absicht messerscharf erkannt hatte, forsch zurecht gewiesen. Ich hatte dieses erst gar nicht mitbekommen, denn das Geschiebe und Gedränge in dem Straßenbahnzug war derartig groß, dass jeder Fahrgast aufpassen musste, nicht zusammen gedrückt zu werden.

Etwas erstaunt, ja sogar mit einem perplexen Gesichtsausdruck, schaute ich schräg zu der stehenden Gruppenbetreuerin auf. Sie schien wohl gemerkt zu haben, dass ich zunächst völlig ahnungslos war und schob die junge Frau von mir weg. Nun, die geistig Behinderten haben auch ihre sexuelle Lust. Und wenn dort kein Riegel vorgeschoben wird, der zumeist Sterilisation heißt, würde der Urtrieb dazu führen, dass nicht gewünschte Schwangerschaften die Folge wären. Dieses soll wegen des bestehenden Risikos, dass dabei wiederum behinderte Kinder zur Welt kommen können, vermieden werden. Mit der Sterilisation wird zwar jenes Risiko ausgeschaltet, der Trieb indes besteht fort. So, wie es bei " gesunden " Menschen eben auch der Fall ist.

Erst nachdem jene Betreuerin erkannt hatte, was ihr Schützling vor hatte und dieses unterband, wurde mir die Absicht der Behinderten klar. Nun, ja, ein Mann kann sich nicht vor allen Eventualitäten des Lebens schützen und auch dann nicht immer, wenn ihm eine Kollision mit einer übergewichtigen Frau in der Straßenbahn droht. Dass dabei mein einst untergewichtiger Körper arg ramponiert worden wäre, wurde mir erst klar, nachdem die Gruppe der Behinderten nebst Betreuerinnen an der Domsheide den BSAG - Container wieder verließ.

Tja, Straßenbahnfahrten haben auch mit Abenteuer zu tun.

Dieses erfuhr ich dann, wenn eine Bahn Verspätung hatte. Dafür gab es viele Ursachen. Ein Unfall mit einem anderen Verkehrsteilnehmer zählte zu den Hauptgründen, Eis und Schnee aber auch und ein technischer Defekt. Ein Zug konnte da schon einmal liegen bzw. stehen bleiben. Dann ging zunächst nichts mehr.
Eine Kuriosität erlebte ich allerdings auf dem Rückweg in Richtung Hauptbahnhof.

Dort fanden in schöner Regelmäßigkeit diverse Bauarbeiten statt. Mal wurde der Bahnhofsvorplatz saniert, mal Gleise erneuert oder Haltestellen renoviert. Dabei verlief natürlich nicht immer alles nach Plan.

Als ich wegen eines auswärtigen Gerichtstermins die 10 von Hastedt nahm und diese kurz vor der Haltestelle am Hauptbahnhof plötzlich anhalten musste, war mir zunächst nicht klar, warum sie dieses tat. Eigentlich sah ich kein Hindernis, dass den Zug aufhielt. Doch es gab ein solches. In Form einer nicht funktionierenden Weiche, die den Zug in die vorgesehene Richtung hätte bringen sollen. Die eingebaut Steuerungselektronik streikte indes. Die Weiche bewegte sich keinen Millimeter. Der Straßenbahnführer wartete einige Minuten, aber die Weiche blieb stur, wie ein Esel, der nicht mehr weiter laufen wollte.

Zu allen Überdruss regnete es auch noch. Es war mal wieder Bremer Schmuddelwetter angesagt. Was die Laune des BSAG - Fahrers in diesem Moment nicht gerade anhob. Der verließ wutentbrannt seinen Sitzplatz, schloss die Kabine hinter sich zu und stürzte fluchend nach draußen. " Ein Scheißladen ist das hier! ", hörten wir ihn herum meckern. Dann entnahm er aus dem unteren Bereich des Fahrzeugbodens eine riesige, gebogene Eisenstange und wuchtete das Teil in eine Öffnung neben der Gleisweiche. Dann presste er die Eisenstange kraftvoll von seinem Bauch in Richtung des Bahnhofgebäudes und bewirkte damit, dass sich die mechanischen Aufbauten der Weiche langsam bewegten.

Wütend knallte er die Eisenstange wieder unter das Fahrzeug und stieg schnell ein. Dann fuhr er ruckartig auf die Haltestelle los und bremste dort abrupt ab. Er öffnete die Türen und ließ den Strom von Fahrgästen zum Bahnhof heraus.
Ich sah auf meine Taschenuhr. Noch drei Minuten, dann fährt der Milchkannen - Express in Richtung Verden los. Ich rannte wie ein 100 Meter - Sprinter, stürzte in die Haupteingangshalle, jagte an den erste 10 Treppenaufbauten vorbei und erreichte das Gleis gerade noch rechtzeitig. In weiser Voraussicht hatte ich mir bereits einige Tage vorher eine Fahrkarte gekauft. Der Zug bewegte sich pünktlich vom Gleis und brachte mich nach zirka einer halben Stunde sicher zum Bahnhof in Verden.

Ohne Verspätung, ohne Panne, ohne fluchenden Zugführer. Na, bitte. Auch dieser " Scheißladen " funktioniert dann doch noch.


A) " Long Distance Calling " - " The Nearing Grave ( Acoustic Version )

B) " Galaxy " " Day Witout The Sun " - 1976:




 






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