Rieder in Sachsen - Anhalt: Ein starkes Stück Deutschland?
Gestern wurde der neue " SPIEGEL " als Heft Nummer 35 / 2020 zugestellt. Noch 17 Ausgaben, dann ist auch dieses Jahr geschafft. Nicht nur allein daran wird deutlich, dass die Zeit nahezu verfliegt, innerhalb derer man älter wird. Mit dem Älter werden ist es ja so eine Sache. Biologisch betrachtet, lassen ab 25 Jahren die von der Natur her vorgesehenen Sinne und die Kraft langsam wieder nach. Wer bereits statt eines Vierteljahrhunderts die Hälfte seines Lebens oder sogar noch weit darüber hinaus auf dem Buckel hat, kann dazu - was nicht selten vorkommt - ohne fremde Hilfe nur noch bedingt den Alltag meistern.
Das traf auch auf einen Mann zu, über den und dessen einstige Nachbarin eine " SPIEGEL " - Reportage der beiden Journalisten Özlem Gezer und Timofey Neshitow handelt.
Er heißt Emmerich. Nein, er hieß Emmerich. So, wie der verstorbene Fußabllnationalspiel und Ex - Dortmunder Lothar Emmerich, der in den 1960er Jahren mit seiner berühmten " linken Klebe " viele Tore erzielte.
Also: Emmerich hieß nicht Lothar, sondern Walter. Auch ein typisch deutscher Vorname aus den Nachkriegsjahren. Walter Emmerich zog es im Wendeherbst 1989 nach Rieder. Einem Ortsteil von Ballenstedt im heutigen Landkreis Harz.
Rieder liegt zirka 7 Kilometer vor der Stadt Quedlinburg im geografischen Vorharzland. Die BAB 36 von Braunschweig nach Bernburg / Sachsen - Anhalt verläuft hier entlang. Ansonsten ist die Region ländlich geprägt. Der Ort Rieder befindet sich deshalb am Rande von vielen Kartoffelfeldern. Hier scheint die zeit nahezu stehen geblieben zu sein.
Den vielen, ab den frühen Nachwendejahren sanierten Backsteinhäusern im typischen Harz - Baustil stehen verfallene Baute im Charme der unter gegangenen DDR entgegen ( z.B. die einst betriebene Gaststätte " Zum schwarzen Ross ").
In diesem Umfeld lebte Walter Emmerich bis zu seinem Tod. Emmerich, Jahrgang 1920, war bei seinem Zuzug bereits Rentner. Er hatte ein bewegtes Leben hinter sich und wollte wohl seine letzten Jahre in Rieder verbringen, denn hier erwarb er alsbald eine Grabstelle auf dem Ortsfriedhof.
Walter Emmerich freundete sich sodann mit den Nachbarn, den Eheleuten Angelika und Norbert H. an. Angelika H. war beim Zuzug von Emmerich Anfang 30 und arbeitete als Köchin in einem Betriebsferienheim; ihr Mann Norbert war ein ungelernter Arbeiter in einer Molkerei. Beide wurden nach der so genannten Wende arbeitslos.
Die " SPIEGEL " - Reportage gibt danach Einblick in jenes soziale Milieu, dass die heutige Soziologie mit den Begriffen " Präkariat " oder auch " bildungsferne Schichten " verknüpft. Bestimmte Verhaltensmsuster, vorgezeichnete Lebensinhalte und häufig vorkommende Lebensumstände werden in diesem Artikel ( " DER SPIEGEL " 35 / 2020, S. 52 ff ) aus - und aufgeführt, die just jene sozio - ökonomischen Bedingungen deutlich aufzeigen.
Neben dem exzessiven Alkoholkonsum, dem Nikotinmissbrauch, sind die Vielzahl der Kinder ( bei dem verstorbenen Walter Emmerich immerhin 9 eigene, bei der Nachbarin Angelika H. sechs Geschwister ) auffällig. Später wird zudem von einem inzestuösen Verhältnis des verstorbenen Walter Emmerich zu seiner zweitältesten Tochter berichtet. Aus diesem ging ein weiterer, behinderter Sohn Emmerich´s hervor, den dessen Tochter mit 15 Jahren gebar.
Die Schilderungen der vielen Kinder des Walter Emmerich zu dem familiären Umfeld von einst sind eindeutig, alle bekunden, dass sie eine " scheiß Kindheit " hatten.
Vor diesem Hintergrund wird dann auch das relativ milde Urteil von 3 1/2 Jahren Haft erklärlich, dass die Nachbarin Angelika H. für eine Tat, die sie an einem Herbsttag im September 1995 beging, als Walter Emmerich, für den sie nach dem Tod seiner zweiten Frau, überwiegend den Haushalt führte, sie - so ihre Einlassung vor dem Landgericht - vergewaltigen wollte. Sie rammte dem angeblichen Angreifer Emmerich zunächst ein Messer in den Rücken und erschlug diesen - nachdem er sie weiterhin bedrohte - ein Beil auf seinen Schädel. Den Erschlagenen schaffte sie anschließend in den Keller, in dem sie zuvor eine tiefe Grube ausgehoben hatte und betonierte den Leichnam dort ein.
Die Strafkammer des Landgerichts Magdeburg wertete diesen Fall im Zusammenhang mit den obigen Umständen als Notwehrhandlung ( Putativnotwehr ). Was danach geschah, wurde von Angelika H. jedoch planmäßig ausgeführt. Sie kassierte bis 2015, als 20 Jahre lang, durch geschicktes Verschleiern und Vertuschen, die Rentenzahlungen von Emmerich. Die Strafkammer wertete dieses als fortgesetzten Betrug, durch den der Rentenversicherungsanstalt ein Gesamtschaden von 104.833,26 Euro entstanden war.
Angelika H. muss nun, ein Vierteljahrhundert nach dem Tod des Walter Emmerich, für den sie eine quasi unentgeltliche Haushaltshilfe war ( vielleicht auch mehr ) in die JVA Halle, den Gang in den dortigen Frauenvollzug antreten. Das gewohnte Leben ist damit zunächst vorbei.
Ihr Mann Norbert H. wurde zuvor in die Psychiatrie eingewiesen. Ob sie nach ihrer Haftentlassung ( eventuell aufgrund der 2§ - Regelung nach 28 Monaten im Dezember 2022 ) mit diesem je wieder zusammenleben wird, erscheint äußerst fraglich.
Die Verurteilte H. ist inzwischen 63 Jahre alt. Das Leben vor jenen Jahren mit dem Nachbarn Walter Emmerich war für Angelika H. nicht gerade sorgenfrei. Bereits mit vier Jahren verlor sie ihre Mutter, die an Krebs verstarb. Das war 1961. Sie in weitere drei Geschwister kamen zunächst in ein Kinderheim. Später verlebte sie als Einzelkind bei ihren Adoptiveltern . Sie beendete dann eine Kochausbildung. Sie arbeitete danach in Sternerestaurants und als Küchenchefin. Dann kam die so genannte Altersarbeitslosigkeit auch über. Die finanziell besseren Jahren begannen mit dem Zuzug von Walter Emmerich. Dieser zeigte sich ihr gegenüber durchaus großzügig, wenngleich er ihr kein Geld für ihre Haushaltsdienste gab.
Nachdem sie Emmerich im Keller einbetoniert hatte, lebte sie vo Harzt IV - Leistungen, vornehmlich aber von dessen Rente,die sich auf zirka 1350 Euro monatlich belief. Angelika H. konnte sich nun das leisten, was ihr durch die SGB II - Zahlungen nie und nimmer möglich gewesen wäre. Sie bestellte bei Versandhäusern, ersteigerte Bekleidungspakete bei ebay und kaufte Gartenzwerge in einem " Teleshopping " - Vertrieb. Sie erwarb einen PKW Renault Megane auf Raten, ließ die Heizung in ihrem Haus, das sie zusammen mit ihren Mann Norbert H. bewohnte, sanieren. Zwischendurch versuchte sie sich als Betreiberin einer Gaststätte, die sie später wieder schloss.
Es war kein luxuriöses Leben, dass Angelika H. nach dem Tod des Nachbarn Walter Emmerich mit dessen einkassierten Rentenzahlungen führen konnte, aber immerhin besser als ein solches als Hartz Iv - Empfängerin. Weil sie sich an die Einnahmen längst gewöhnt hatte, verbrauchte sie zusätzlich auch noch die Rente ihren beinahe erblindeten Ehemannes Norbert, der konnte wegen seiner kaum noch vorhandene Sehkraft ( - 28 Dioptrien ) die Briefe von der LVA ncht mehr lesen. Wenn er nach der Rentenzahlung fragte, belog Angelika ihn und behauptete, die Rente sei nicht angewiesen worden.
Dann wetterten beide zusammen gegen den Staat. Wenn ein Bekannter ihres Mannes zu Besuch kam, stellte Angelika ihnen artig das Bier auf den Tisch. Die Männer hörten gemeinsam Marschmusik und erhoben zu Ehren des Geburtstages des " Führers " Adolf Hitler das Glas.
Angelika H. ließ ab 2005 die Rentenzahlungen des toten Walter Emmerich auf das mit ihrem Mann Norbert gemeinsam bestehende Postbank - Konto überweisen. Hierzu fälsche sie mutmaßlich dessen Unterschrift. Doch auch ab dieser Zeit hatte sie weitere Einkünfte, weil sie sich immer wieder arebitslos meldete. Auch einem Ein - Euro - Job bei der Stadtinfromation ging sie nach. Dort unterschlug sie die von den Hotelbetriebn immer in bar eingezahlte Kurtaxe. Es entstand ein Schaden von zirka 2.500 Euro.
Eine " Döner - Imbiß " - Betreiber betrog sie während ihrer Arbeit als Auslieferungfahrerin ebenfalls. Dieser erinnerte sich an Angelika H. noch gut und gab an, dass am Ende eines jeden Tages, an dem Angelika H. gearbeitet hatte, immer ein Manko in der Kasse vorhanden war. Als eines Tages das gesamte Lieferportemonnaie fehlte. Es war der letzte Arbeitstag der H.
Der Schwindel mit der für den seit September 1995 toten Walter Emmerich flog dann am 14. August 2015 auf. An diesem Tag wäre Emmerich 95 Jahre alt geworden. Ein Anlass für die Rentenversicherungsanstalt von diesem eine Lebensbescheinigung, durch das zuständige Meldeamt ausgefertigt, einzureichen. Dazu muss der Rentenbezieher bei dem Amt persönlich erscheinen. Diese Bescheinung wurde bei der LVA nie vorgelegt, so dass diese die Rentenzahlungen im Oktober 2015 endgültig einstellte.
Jetzt muss Angelika H. ihr eigenes Leben in der JVA Halle neu umstellen. Sie ist nach dem Urteil des Landgerichts Magdeburg keine Mörderin, sie hat den einstigen Nachbarn Emmerich auch nicht erschlagen. Wohl aber hat sie die Solidargemeinschaft um einen sechsstelligen Betrag betrogen. Betrug in dieser Form ist kein Kavaliersdelikt. Auch dann nicht, wenn H. sich von dem Staat, zunächst der DDR und seinem einstigen starken Mann Honecker, von dem sie sich als " verkauft " gesehen hat, dann Kohl, Schröder, der Hartz IV brachte und schließlich der aktuellen Bundeskanzlerin Merkel ( H. tituliert sie mit " Stasi - Sau " ) hintergangen gefühlt hat. Ein psychiatrischer Gutachter führt in dem Strafprozess über H. aus, dass H. unter einer evidenten Diskrepanz zwischen dem ihr zur Verfügung stehenden Geld und dem eigenen Drang, ihre subjektiven materiellen Bedürfnisse zu befriedigen, leide.
Ein Phänomen, das bei vielen Millionen anderen Bürgern ebenfalls erkennbar vorhanden sein dürfte. Dieses erbringt jedoch keine verminderte Schuldfähigkeit, wie sie im Strafgesetzbuch vorliegen muss, um eine zu erwartende Strafe zu mildern.
Die Gesellschaft, der Staat hat Angelika H. gar nichts an Geldleistungen vorenthalten. Sie war, ist und bleibt für ihr Leben selbst verantwortlich Dieses beginnt ab August 2020 mit dem Antritt in die Unfreiheit, nämlich den Strafvollzug als Rentnerin mit einer aktuellen Leistungshöhe von 394 Euro monatlich. Keine Frechheit, wie die Verurteilte behauptet. Weil sie die zu Unrecht einbehaltenen Rentenzahlungen des Walter Emmerich an die Solidargemeinschaft im Leben wird niemals zurückzahlen können, bleiben alle Versicherten auf diesem Betrag sitzen.
Ein starkes Stück Deutschland, diese Angelika H. aus Rieder im fernen Sachsen - Anhalt?
THE MAD´S - Fly Away - 1970:
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