Die Internationale Fahne hoch



Als ich ab April 1974 meinen Umweg zum (Fach)Abitur startete, war für viele Mitstreiter und auch Lehrer der so genannte Zweite Bildungsweg nahezu vollkommenes Neuland. Die Berufsaufbauschule Wirtschaft in der niedersächsischen Kreisstadt Stadthagen hatte zu jener Zeit im norddeutschen Raum beinahe ein Alleinstellungsmerkmal. Deshalb fanden sich auch Schüler aus anderen Landkreisen nicht nur dieses Bundeslandes dort ein. Es war einst ein bunt zusammen gewürfelter " Haufen ", der sich ab jenem ersten Schultag in den Räumen der einstigen Kreisberufsschule an der Vornhäger Straße einfand.

Zu diesem gehörte auch ein Mitschüler mit dem Namen Kunze. Den Vornamen kennen ich leider nicht mehr, deshalb nenne ich ihn hier einfach K. Er wohnte zur jener Zeit in der Nähe von Rinteln. Einem zirka 20 Kilometer von dem Schulort entfernten Städtchen an der Weser. K, war einige Jahre älter als ich und verheiratet. Er lebte mit seiner Frau, einer zierlichen, eher kleinen, gebürtigen Südkoreanerin zusammen.

Diese verdiente ihr Geld als Arbeiterin in einer bei Rinteln gelegenen Pilzfabrik. Sie war dort im Schichtbetrieb tätig. Weil sie dann die deutsche Sprache besser beherrschte, erhielt K.´s Frau eine Stelle als Krankenschwester in dem Rintelner Krankenhaus. Auch diese Arbeit musste sie in dem bekannten Schichtbetrieb erledigen. Deshalb wurde K. immer sehr früh wach. Seine Frau ging gegen 4.30 Uhr aus dem Haus und kam gegen 14.00 Uhr zurück. K.´s Leben war nicht einfach. Weil seine Frau nicht sehr viel verdiente, erheilt K. Schüler - BaföG. Mit diesem eher kleinen Betrag und dem geringen Verdienst seiner Frau mussten K. und sie die Mite, die Nebenkosten und den übrigen Lebensunterhalt bestreiten. Oft reichte es gerade so.

K. fuhr aber einen PKW. Einen VW 1303 " Jeans ". Den Wagen hatte K. von seiner Abfindung und dem Übergangsgeld bei der Bundeswehr gekauft. K. hatte sich auf 4 Jahre beim Bund verpflichtet und wurde als Stabsunteroffizier entlassen. Das entsprach der damaligen Besoldungsgruppe A 5 und etwa 750 DM netto monatlich. Der VW Käfer kostete damals um 6.800 DM. Das konnte sich K. gerade mal so leisten. 

K. fuhr mit seinem gelben VW Käfer von Rinteln nach Stadthagen und zurück. Der Bezinverbrauch lag bei über 10 Liter / 100 Km; er war deshalb enorm hoch. Selbst wenn ein Liter Normalkraftstoff nur um die 80 Pfennig kostete, waren für die etwas mehr als 40 Kilometer Fahrtstrecke fast 5 DM fällig. Das läpperte sich im Monat zusammen. K. schlug damals vor, eine Fahrgemeinschaft zu gründen. Im Wochenwechsel fuhren wir dann gemeinsam von Bad Eilsen nach Stadthagen. K. sparte somit mehr als 25 DM im Monat. Diese Regelung behielten wir mit wenigen Unterbrechungen bis zum Ende der BAS - Schulzeit im März 1975 bei. Dann beendete K. seinen Start zum Fachabitur. Er wollte die FOS - Klasse im folgenden Schuljahr nicht mehr besuchen.

K. war nicht der schulische " Überflieger ". Seine Zensuren schwankten damals zwischen " Befriedigend " bis " Ausreichend ". Für eine Klasse 12, die das Ziel hatte, dem Schüler die Fachhochschulreife zu ermöglichen, hatte K. intellektuell besehen, nicht die besten Voraussetzungen. K. beabsichtigte zudem wieder ein seinem erlehnten Beruf, den des Schaufenstergestalters ( Dekorateurs ) arbeiten zu wollen. Vor allem auch deshalb, weil K.´s Frau nicht sehr viel verdiente und das Leben zu zweit größtenteils doppelt so teuer ist.

Doch in jenem Jahr von April 1974 bis März 1975 besuchte K. die BAS in Stadthagen. Und er entpuppte sich dort als Spaßvogel. Er erzählte ständig Witze, machte sich über die Mitschüler lustig, ohne dabei verletzend zu sein, und fuhr mit seinem VW Käfer im Herbst schon mal in einen Feldweg hinein, um dort Maispflanzen abzuernten, die Kolben in eine große Tasche zu legen, die er dann nach Hause brachte, wo seine Frau ihm ein asiatisches Gericht zubereitete.

 Da K. zuvor - wie ich auch - beim Bund war, spuckte er - im Gegensatz zu mir - nicht ins Glas, sondern konnten " einen ordentlichen Stiefel vertragen ". Genauer gesagt: K. hatte ein Alkoholproblem. Deshalb verwunderte es nicht, dass K. mich um 7.30 Uhr morgens mit einer " Fahne " abholte. Der " Jeans " - Käfer roch nach Bier und Schnaps, weil K. am Vorabend irgendwo in einer Rintelner Kneipe " getankt " hatte. Auf dem Weg von Bad Eilsen zur Schule in Stadthagen fuhr K. deshalb sehr vorsichtig. Er verhielt sich als Autofahrer nahezu mustergültig. 

Doch eines Morgens verursachte K. einen Unfall. Es war Ende November 1974. Der Winter hatte inzwischen begonnen, denn es lag eine Schneedecke auf den Feldern. Es herrschten Minusgrade und über die Freiflächen vor dem elterlichen Haus pfiff ein eisiger Wind. Deshalb hatte ich meinen Renault R 4 mit einer Plastikfolie provisorisch abgedeckt. Eine Garage gab es für mich nicht, denn dort stand der PKW der Eltern. Aus der Vergangenheit wusste ich, dass der rote R 4 mit seiner 6 Volt - Anlage  bei winterlichen Verhältnissen sehr oft nicht funktionierte, weil die Batterie schlapp machte. Dazu fror die Kühlflüssigkeit ein und sogar der Vergaser war vereist. Also beugte ich diesem drohenden Dilemma vor und legte eine dicke Plasteplane vom Bau über den Wagen. Das half gegen das Winterwetter, denn es war wie eine schützende Hülle; eine Art Freiluft - Garage. 

An jenem Morgen indes lag die Plane zum Teil auf der Straße, weil ein heftiger Wind in der Nacht meine Befestigungskonstruktion, die aus Steinen und Schnüren bestand, los gerissen hatte. Der starke Westwind ließ die lose Plasteplane über die Fahrbahn flattern. Irgendwann beruhigte sich das windige Wetter aber. Am Morgen file wieder etwas Schnee und bedeckte die Plasteplane ein wenig.

Als K. mich abholte, übersah er wohl die auf der Straße liegenden Planefläche und fuhr direkt darüber. Sein Käfer rutschte seitwärts weg und an das Auto meines Schwagers heran, der seit Sommer im elterlichen Haus ständig übernachtete. K´s VW Käfer verursachte eine Beule am Kotflügel des anderen PKW. Als K. klingelte, schilderte er mir kurz den Vorfall, ohne mir dabei näher zu kommen. K. blieb mindestens zwei Meter vor der Haustür im Freien stehen. Er vermied es auch - trotz meiner Bitte - in das Haus zu kommen. K. hatte nämlich eine mordsmäßige " Fahne ". Ich schrieb für K. ein paar Zeilen mit der Versicherungsadresse und - Nummer auf einen Zettel und klemmte den unter dem Scheibenwischer des Mazda meines Schwagers. Dann fuhren wir zur Schule.

Als mich dann am selben Abend mein Schwager wegen des Unfalls ansprach, erklärte ich ihm, dass er selbstverständlich seinen PKW zur Reparatur bringen muss; gleichgültig, ob es sich bei dem Unfallverursacher um meinen Schulkollegen handele. Besonders in jener Zeit als der PKW zum Indikator für Wohlstand und Abgrenzung von der übrigen Masse der Gesellschaft aufstieg, ja, sogar zu einer Art von Fetisch wurde, musste das " Gute Stück " gehegt und gepflegt werden. Es besaß einen höheren Stellenwert als die eigene Ehefrau. Da sich daran nicht so viel geändert hat, wird klar, warum die hiesige Automobilindustrie den Charakter eines Nationalheiligtums annehmen durfte.

Nun, der Mazda meines Schwagers wurde repariert. Die Welt war wieder in Ordnung. Es gab keinen Familienkrach; zumal ich nichts von der " Fahne " des K. am Morgen des Unfalltages erzählte.

K. nahm auch an der Klassenfahrt teil, die uns im Herbst 1974 nach Neustadt am Titisee führte. Die Reise begann früh am Bückeburger Bahnhof, von wo der Nahverkehrszug ( heute S-Bahn oder Regionalbahn benannt  ) uns zunächst nach Hannover brachte. Nach einer längeren Wartezeit auf dem Hauptbahnhof der niedersächsischen Landeshauptstadt stiegen wir dann in den wesentlich schnelleren D - Zug ( DC - Zug ) nach Freiburg im Breisgau und dort wiederum in einen Regionalzug, der uns nach Neustadt am Titisee brachte. Die Fahrt dauerte mehr als 10 Stunden, so dass wir alle hundemüde am späten Abend ankamen.

Die einwöchige Klassenfahrt von Montag bis Freitag galt zwar als Schulzeit, doch an den Nachmittagen und Abenden konnte jeder Schüler die Zeit selbst ausgestalten. So setzten wir uns in einen größeren Aufenthaltsraum der Pension und spielten Karten ( zumeist 17 + 4 mit Pfennigeinsätzen ). Andere jedoch  gingen in den Ort, der sehr überschaubar war und außer einigen Lokalen, Geschäften und Hotels und Pensionen nichts zu bieten hatte. 

K. indes saß mit einigen anderen Mitschülern in der Gaststätte und trank. Nachdem er den Kanal voll hatte, wankte er in unser Zimmer und wollte dort nach Essbaren suchen. Er hatte einen riesigen Hunger. Eine Mitschülerin bekam von ihrer Mutter selbst gemachten Kartoffelsalat mit auf die Reise, der allerdings schon gärte, denn in dem Zimmer war kein Kühlschrank. K. war´s egal. Er zog die Porzellanschüssel mit dem Kartoffelsalat an sich und schaufelte diesen mit der Hand in seinen Mund. Wir lachten Tränen. K. war so " breit ", dass er anschließend aus dem Fenster kotzte, weil er nicht mehr zur Toilette kam.

Dann setzte sich K. wieder auf den Stuhl und trank weiter. Als gegen Mitternacht einige Mitschüler aus der Stadt zurückkamen, hatte sie einen jungen Mann aus Neustadt mitgenommen, der offensichtlich mit den angetrunkenen Schülerinnen anbändeln wollte. K. erkannte dieses und rief in einem selbst zusammengesetzten Dialekt aus dem geöffneten Fenster: " Hoi, bringe ´se de Männle mit nach obe ; nur furze darf é net. ". Wir hielten uns die Bäuche vor Lachen. So war K. alsbald auch hier der Spaßvogel, der Klassen - Clown, der Kasper unter uns, längst volljährigen Schüler.

Von K.´s massivem Alkoholproblem bekamen wir nichts mit. Dazu waren wir, die direkt mit K. Umgang hatten, nicht lebenserfahren genug.

An einem so genannten Klassenabend, den wir an einem Freitagabend in einem Gasthof in Poggenhagen veranstalteten, war das Alkoholproblem des K. aber unübersehbar. K. soff an diesem Abend eine Flasche des süßen Modegetränks " Persico " ( verballhornt: " Perversico " ) alleine aus und trank zudem mehrere halbe Liter Bier. Dabei inszenierte er seinen großen Auftritt. Er intonierte zunächst die " Internationale " und anschließend das " Horst Wessel - Lied ". Weil die meisten von uns - mich eingeschlossen -  natürlich nicht text sicher waren, war es ein wüsten Gegröle, dass durch den Alkoholeinfluss wohl noch grausamer geklungen haben muss. 

Kaum war das elendige Gesinge bei dem Kampflied der sozialistischen Arbeiterbewegung vorbei, sang unser Klassenlehrer B. noch " Bumm! Bumm! " nach. K. kommentierte es mit den Worten: " Der Sozi spricht! " und alles brüllte. Unser Klassenlehrer B. war ein 68er, hatte an der FU in Berlin studiert und war - nach den in der Schule kursierenden, aber keineswegs bestätigten Erzählungen, während seiner Studienzeit aktiv in einer K. - Gruppe gewesen, so dass er keine Anstellung als beamteter Pädagoge erhalten durfte, denn es wurde nach dem so genannten " Radikalenerlass " einem Bewerber der Beamtenstatus nicht zu erkannt, der sich nicht zur " Freiheitlich Demokratischen Grundordnung " bekannte. Nun, K.´s großer Auftritt war beendet. Die Stunden vergingen. Der Aufbrauch nahte. Es ging ans Begleichen der so genannten Deckel.

Während die meisten Mitschüler einen " Deckel " von weit unter 10 DM zu bezahlen hatten, musste der sturz trunkene K. beinahe das Vierfache an den Wirt zahlen. K. torkelte gegen Mitternacht zum Auto, dass seine Frau fuhr und legte sich sofort auf die Rückbank, wo er einschlief.

Nachdem K.´s Frau am elterlichen Haus abgesetzt hatte, überlegte ich, warum K. eine Koreanerin geheiratet hatte. Viel später wurde mir der Grund dafür klar: Die Frauen aus diesem Land, dass eine völlig andere Kultur vorweist, haben damit auch eine andere Erziehung erhalten. Einst hatten Männer aus diesem Kulturkreis ausschließlich Privilegien, gegen die die Frau nicht opponieren durfte. K. wusste das und nutzte es dann und wann auch aus. Eine europäische oder deutsche Frau hätte sich die Sauf - Exzesse eines solchen Mannes wohl nicht so lange gefallen gelassen.

Einige Jahre später, ich hatte längst das Studium der Betriebswirtschaftslehre in Wilhelmshaven aufgenommen, traf ich K. wieder. Er arbeitete tatsächlich in seinem gelernten Beruf als Dekorateur beim Kaufhaus " Schild "  in Bückeburg. Er leitete dort die Deko - Abteilung und erzählte mir, dass er auch zwei Auszubildende zugeteilt bekommen hatte. K. erklärte mir, dass er es nicht bedauert habe, die FOS und ein anschließendes Studium nicht weiter geführt zu haben. Er verdien jetzt genug Geld und sei insgesamt mit seinem Leben zufrieden.

K. wohnte immer noch in Rinteln und war auch immer noch verheiratet. 

Viele Jahre nach Beendigung meines Jura - Studiums hörte ich aus dem elterlichen Umfeld, dass die Frau von K., die älter als er war, verstorben sein sollte. Auch K. verstarb einige Jahre danach. 

Heute kann ich nur mutmaßen, was der Grund für seinen frühen Tod gewesen sein könnte. Dabei erinnerte ich mich an jene nur kurze Zeitspanne, in der ich mit K. zusammen zur BAS nach Stadthagen fuhr und er jeden Morgen eine ordentliche " Fahne "hatte. Der Bruder Alkohol hatte K. mit genommen und seinem oft sehr widersprüchlichen Leben - mutmaßlich -  ein Ende bereits. Das Intonieren der " Internationalen " und anschließend des Faschistenliedes " Die Fahne hoch " war längst nicht mehr zeitgemäß - Alkohol hin, Fahne her!

K. musste vor dem Bruder Alkohol die weiße Fahne hissen.


DIDO  -  White Flag  -  Life For Rent  -  2003:


  


 

 

      

  

  

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