Essen Eins, ein Ei, eine Cola!
Als ich vor mehr als 44 Jahren das Jura - Studium beginnen durfte, lebte ich bereits über zwei Jahre in dem Studentenwohnheim an der Mensa der Universität in Bremen. Kein besonders attraktiver Ort, um es ein wenig neutral auszudrücken. Die Uni bestand aus einer Reihe von Betonklötzen, die damals ab den frühen 1970er Jahren in das noch grüne Umfeld am Stadtrand eingepflanzt worden waren. Ein typischer Baustil, wie er zu jener Zeit vornehmlich in den Großstädten üblich war, weil hier der Grund sehr teuer und zudem rar war. Die Planer bauten deshalb in die Höhe. Hochhaus heißt aber, hässlich!
So waren die Studentenwohnheime nicht selten aus hässlichem Beton, egal, ob hoch oder niedriger gebaut. Ein solches Wohnheim steht eben direkt neben der Mensa der Universität Bremen.
Hier verbrachte ich beinahe 9 Jahre meines Lebens. Das sich zu jener Zeit nicht gerade wie Friede, Freude, Eierkuchen abspielte. Neben allerlei unschönen Erlebnissen innerhalb der selbst gewählten Tristesse aus grauem Beton, kamen sehr knapp bemessene finanzielle Verhältnisse hinzu.
Nach dem BWL - Studium, dass ich 1980 an der ehemaligen Hochschule für Wirtschaft ( HfW ) mit dem Diplom - Betriebswirt ( FH ) beendete, musste ich zur Umsetzung meines Vorhabens Rechtswissenschaften studieren zu wollen, erst mal von April bis September in der Glasfabrik malochen gehen. Klar, der Verdienst im Drei - Schichtbetrieb war auf damalige Verhältnisse bezogen mehr als gut. Zumal der gesamte Lohn als Brutto für Netto zu sehen war, denn die von Papa Staat kassierten Steuern erhielt ich 1981 durch den Lohnsteuerjahresausgleich zurück. So kamen zirka 8.500 DM zusammen, die ich umgehend auf mein Postsparbuch überwies, denn hierfür gab es über 3,5 % Zinsen. Zu jener Zeit war Sparen noch lukrativ. Es galt noch als eine der westdeutschen Grundtugenden ( Spare in der Zeit, so hast Du in der Not! ).
Mit diesem Ersparten begann ich dann am 15. 10. 1980 das Jurastudium an der Universität Bremen. Nicht wenige meiner wenigen Bekannten werteten mein Vorhaben als Himmelfahrtskommando, den die Juristerei galt gemeinhin als dröge, das Studium als zu schwer und die Berufsaussichten waren auch eher mau. Jedenfalls - wie ich jedoch erst Jahre danach feststellen konnte - für den in Bremen erhaltenen Abschluss.
So bewegte ich mich weiterhin für sechs lange Jahre in einem gesellschaftlichen Paralleluniversum. Jenseits des Mensa - Wohnheims auf dem Universitätsgelände gab es bis zum Ende des 4. Semesters 1982 nur wenige Orte, die ich regelmäßig aufsuchte. Dazu gehörten die Schallplattengeschäft " ear " im Steintor, " JPC " in der Innenstadt sowie " Am Rembertiring " und " Saturn " am " Hansaring " in Köln. Ab und zu fuhr ich zum elterlichen Haus nach Hessen oder zu einer Bekannten nach Wilhelmshaven. Ansonsten jobbte ich in den Semesterferien in der Glasfabrik H. Heye in Oberkirchen, dort auch bei " Bornemann Pumpen " und später auf dem Resthof des Orthopäden C. C. Bohlius in Pennigbüttel bei Osterholz - Scharmbeck.
( Vergl. hierzu: https://lobster53.blogspot.com/2016/06/wo-liegt-penningbuttel.html )
Die meisten Tage, Wochen, Monate verbrachte ich jedoch in den Räumen des Betonklotzes, der sich GW2 nannte und in dem auch der Studiengang Rechtswissenschaften untergebracht war. Von dort aus dauerte es nur eine kurze Zeit, ehe der Student in die Bibliothek gelangte, die visavis liegt. Hinter dem GW 2 - Gebäude liegen die Einrichtungen des Studierendenwerks ( damals noch Sozialwerk der Universität Bremen ) und darin integriert lag im Foyer, das durch eine Drehtür betreten werden konnte, die Ausgabestelle für Essenmarken.
Gegen klingende Münze konnten hier drei unterschiedliche Wertmarken, die sich farblich voneinander abhoben, erworben werden. An mehreren Ausgabeschaltern konnten diese werktags gekauft werden. Ratsam war es jedoch, Marken bereits auf Vorrat zu erwerben, denn ab 12.00 Uhr bildeten sich dort sehr oft lange Schlangen. Die drei Herren in dem Schalterraum hatten alle Hände voll zu tun und kamen wohl so richtig ins Schwitzen. Vermutlich werden heutzutage die elektronischen Helfer längst ihre Tätigkeit übernommen haben. Damals aber wurde die Uni - Betrieb noch sehr personalintensiv aufrecht erhalten. Zumal die Reform - Universität von den drei Bundesländern Berlin, Hamburg, Hessen, Niedersachsen sowie Nordrhein - Westfalen, die über einen Ländervertrag zusammen mit Bremen die Kosten der Universität stemmen sollten. Dass dabei auf zu viel Personal eingesetzt wurde, lag eben an den vollen Finanztöpfen. Drittmittel mussten somit für die Dauer von 10 Jahren nicht eingelobt werden.
In jene, nur vom Finanziellen aus betrachtet, eher prekäre Zeit, erinnerte ich mich nach einem Blick in die Eierverpackung, in der sich doch tatsächlich nur noch ein einziges Exemplar befand. Ein " Öko - Hühnerei " aus dem nahe gelegenen Bio - Gut " Hollern ". Hier fahren oder gehen wir in unregelmäßigen Zeitabständen hin, um uns mit Eier zu versorgen. Eine Packung mit 10 " Bio - Eiern " ( sie werden diesen Namen wohl ohne große Bedenken führen dürfen, denn die Hühner laufen frei herum und werden wohl größtenteils ihre Nahrung auf den vorgesehenen Wiesen suchen ) kostet mittlerweile 4 Euro ( Güteklasse L ) bzw. 3,50 Euro ( Güteklasse M ).
Dafür hätte ich mir zu jener Zeit in den späten 1970ern bis Ende der 1980er 8 Packungen also 80 Eier beim " Aldi " in der Riensberger Straße in Bremen kaufen können.
Und während ich die leere Eierpackung anschaute, kamen mir jene drei Episoden aus dieser Zeit wieder in den Sinn, die mehr oder weniger etwas mit Ei zu tun hatten.
Eines Abends klopfte es an meiner Zimmertür. Vor dieser stand eine ziemlich herunter gekommen aussehender junger Mann, der sich nur kurz mit Vornamen vorstellte, um dann gleich sein Anliegen vorzubringen.
Er gab an, aus seiner Wohnung geflogen zu sein, weil er die Miete nicht mehr zahlen konnte. Ja, solche Fälle kannte ich zur Genüge. In dem Milieu, in dem ich mich zu jener Zeit herum trieb, gab es überwiegend Studenten. Darunter auch solche, die wie ich auch, in sehr bescheidenen Verhältnissen lebten.
Doch dieser junge Mann war obdachlos. Er gab zumindest vor, es zu sein. Obdachlosigkeit, also kein festes Dach über dem Kopf zu haben, war für mich selbst ein Fremdwort. Ich kannte es nur von den Bildern in den Berichten des " SPIEGEL ", des " stern " oder aus den Beiträgen im Fernsehen. Ich war zwar unter strengen, proletarisch beeinflussten Dogmen erzogen worden, allerdings auch mit einem gerüttelt Maß an humanitären Grundsätzen gepaart. So ließ ich den vermeintlich Obdachlosen in mein 18,4 m³ Zimmer hinein.
Nach einem kurzen Gespräch an meinem " IKEA " - Tisch bot ich ihm einen schwarzen Tee an. Mehr hatte ich nicht in dem Schrank oberhalb der Mini - Küche liegen. Doch der Gast hatte wohl mordsmäßigen Hunger. Er schritt danach zum Kühlschrank, öffnete die Tür und rupfte eine halb volle 1,5 Liter Flasche Coca Cola heraus, trank diese in einem Zug aus und kam zu mir zurück an den Tisch.
" Du hast Hunger, nicht? ", so oder so ähnlich stellte ich ihm die Frage nach seiner Cola - Trinkeinlage.
Er gab es unumwunden zu.
Ich erklärte ihm, dass ich nichts weiter zum Essen eingekauft hätte. Dann fiel mir ein, dass in meinem Portemonnaie noch Essenmarken hatte.
Es waren noch deren drei. Zwei Wertmarken für das Stammessen " Eins " und eine für das Essen " Zwei ".
Ich gab ihm die beiden " Einser - Marken " mit dem Hinweis, dass er damit ab 11.30 Uhr in der Mensa an der Ausgabe anstellen kann.,
Als ich am Morgen zu der 8.00 Uhr - Vorlesung ging, verließ auch der " Obdachlose " mit mir das Zimmer.
Mittags löste ich die letzte Essenmarke ein. An der Ausgabe, wo nur ich stand und das Tablett auf die Plaste - Schiene entlang führte, war Milchreis mit Zimt und Zucker aufgeführt. Ich nahm die Wertmarke in die Hand und ging zu der Kasse, wo jedoch keine der sich sonst an den Ausgaben befindlichen Mitarbeiterinnen zu sehen. Die standen im hinteren Bereich der Fläche und palaverten miteinander herum. Ich legte die Wertmarke auf die Ablagestelle an der Kasse. Von den Damen rührte sich weiterhin keine. Deshalb hob ich diese wieder auf, steckte sie ein und entschwand eilenden Schrittes aus dem Kassenbereich. Eine der Damen entschloss sich nun doch zu kommen, hob dabei die Hand hoch und rief noch irgendetwas Unverständliches hinter mir her. Da war ich schon längst im Gewimmel der Studenten und Mitarbeiter untergetaucht. Ich hatte 1,40 DM gespart und meinen hungrigen Magen umsonst gefüllt. Ob ich dabei an den Obdachlosen dachte, der wohl ebenfalls hungrig irgendwo in Bremen herum laufen würde, weiß ich nicht mehr.
Er kam allerdings am Abend wieder. Ich ließ ihn wiederum in das von mir für 144 DM Inklusivmiete bewohnte Zimmer und er sah nochmals in meinen Kühlschrank. Statt der Cola guckte ihn jetzt nur noch ein Hühnerei aus einer ansonsten zuvor geleerten " ALDI " - 10er Packung für knapp 1 DM an. Der Kühlschrank war leer. Essenmarken hatte ich keine mehr. Geld nur noch für den nächsten " ALDI " - Einkauf in der Filiale in Bremen - Riensberg und der stand erst am Freitagnachmittag an.
Er musste trotzt des erneut kredenzten " Ostfriesen " Tees hungrig bleiben.
Ich nahm ihn noch einmal für eine Nacht in meinem Notquartier auf.
Am nächsten Abend kam er nicht wieder.
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