Piratensender auf der Mittelwelle
In den bewegten 1960er Jahren, in denen vieles in Frage gestellt, noch mehr verändert und anderes verboten wurde, entstand mit der Popkultur eine nur sehr kurze Ära der so genannten Piratensender.
Die zunächst nur sehr wenigen Stationen sendeten zumeist die Musikstücke, auf die ein Beatanhänger in den Programmen der staatlichen, in der BRD, den öffentlich - rechtlichen Rundfunkanstalten zumeist vergebens oder lange warten musste.
Zu dem Vorreiter jener illegalen Rundfunkstationen in Europa, die - wenn überhaupt - nur auf Mittelwelle zu empfangen waren, zählte " Radio Caroline ". Der " Piratensender " war von 1964 an, dann neben " Wonderful Radio London " außerhalb der 3 - Meilen - Zone vor der englischen Nordseeküste stationiert. Beide sendeten jeweils von einem umgebauten Schiff.( https://de.wikipedia.org/wiki/Radio_Caroline )
( https://de.wikipedia.org/wiki/Wonderful_Radio_London )
Die Gründe, dass in den europäischen Ländern bestehende Monopol der staatlich beeinflussten, getragenen und auch kontrollierten Rundfunkanstalten, in wahrsten Sinne des Wortes, zu umschiffen, waren kommerzieller Natur. Es ging schlechthin um Geld verdienen.
https://de.wikipedia.org/wiki/Piratensender
https://detektor.fm/kultur/piratensender-auf-mittelwelle
Zu den " Piratensendern ", die in jener Zeit auch - je nach Wetterlage - in Teilen Westdeutschlands zu empfangen waren, gehörte der niederländischen Pedant von " Radio Caroline / Wonderful Radio London " mit dem Namen " Radio Veronica " ( RV ). Er lag außerhalb der Drei - Meilen - Zone vor der holländischen Nordseeküste und sendete ab 1965 über das Mittelwellenband 192 = 1562,5 kHz zunehmend populäre Musik.
https://de.wikipedia.org/wiki/Radio_Veronica
Als glühender Anhänger der Beatmusik hatte ich natürlich über Freunde von dem Sender Wind bekommen und versuchte in der Freizeit über das in der elterlichen Küche stehende Kofferradio " ITT Schaub Lorenz Touring T 70 " den Piratensender " reinzukriegen ". Das zu der damaligen Zeit durchaus technisch anspruchsvolle, tragbare Radiogerät, verfügte über zwei Teleskopantennen. Damit konnte der Empfang auf sämtlichen Bereichen ( UKW, MW, LW und KW ) erheblich verbessert werden.
Die beiden Antennen ließen sich nicht nur ausziehen, sondern auch um 360 Grad schwenken. Zudem verfügte das Kofferradio über einen Feinabstimmungsdrehknopf. So ausgerüstete, stellte ich das Gerät zudem in verschiedene Positionen auf der Resopalküchenplatte und manipulierte an dem " Schaub Lorenz " Radio so lange herum, bis ich auf der angegeben Sendefrequenz einige Geräusche vernahm, die sich wie Musik anhörten.
Irgendwann, nach dem der Sender x-fach weg gerauscht war, es nur noch ein Zirpen, Knattern oder Fiepen zu hören gab, gab ich meinen Plan an dem Tag auf oder versuchte es in den Abend - und Nachtstunden erneut. Die besten Ergebnisse gelangen mir bei den so genannten Inversionswetterlagen. Hier trugen die Sendewellen, die von dem 350 Kilometer entfernt liegenden Schiff kamen, die damit übertragene Musik nahezu störungsfrei in das sie dann umwandelnde Radio.
Hier konnte ich dann meine heiß geliebten Beat - und Poptitel hören. Die Auswahl der Stücke war zwar überschaubar, denn neben den obligatorischen Titeln der " Beatles ", " Rolling Stones ", dudelte " RV " die mir längst bekannten Hitparadenlieder ab. Dann und wann fanden auch einige niederländische Interpreten dort Berücksichtigung. Deutsche Bands oder gar deutschsprachige Interpreten waren nie dabei. Warum auch? Schließlich plärrten die bundesdeutschen Sender, soweit sie überhaupt zu empfangen waren, jene Schnulzen rauf und runter.
Von den englischsprachigen Songs hatte ich längst einen großen Teil als Single in meinem Schuber. Insofern kam von " RV " nicht sehr viele neue Musik. Doch es gab natürlich auch eine Reihe von Liedern, deren Singlekauf ich mir aus gutem Grund schenkte. Es waren Stücke, die mir entweder zu softig vorkamen oder die als Auskoppelung von LPs nach und nach veröffentlicht wurden, um noch mehr Kasse machen zu können.
Zu jenen Interpreten zählte ich das US - amerikanische Pop - Duo Simon & Garfunkel. Von ihnen besaß ich damals nur die von einer Nachbarin gnädigerweise überlasse 45er Scheibe " The Sound Of Silence " von ihnen. Später gesellten sich jeweils und ebenfalls als milde Gabe " The Boxer " und " El Conor Pasa " dazu. In dieser Zeit lag dann auch jene LP - Auskoppelung " Bridge Over Troubled Water " auf meinem Anlagentisch. Ein Bekannter hatte sich die Single zugelegt.
Na,ja, es war nicht so unbedingt mein Geschmack. Zu viele Streicher, zu schnulzig insgesamt. Ich legte das Teil wieder in die Hülle und spielte lieber meine Singles ab.
Wenige Tage später, es war irgendein ungemütlich, kalter Februartag im Jahr 1970 drehte ich wieder an dem elterlichen Kofferradio herum. Mit einigem Geschick und der erforderlichen Routine gelang es mit tatsächlich den " Piratensender " aufzuspüren. Die Empfangsqualität war an jenem Wintertag nahezu störungsfrei. Was an jenem frühen Nachmittag, den ich nach meiner Berufsschuleam Radio verbrachte, von dem niederländischen Sender vor der Küste von Katwijk an Titeln gespielt wurde, habe ich nicht mehr in Erinnerung.
Mit Ausnahme eines Stücks. " Bridge Over Troubled Water " von Simon & Garfunkel. Jenem Pop - Duo aus den USA, das in meiner Skala des damaligen Musikgeschmacks eher ganz unten rangierte. Meine Favoriten von einst hießen: " Black Sabbath, Deep Purple, Jimi Hendrix, Uriah Heep, Chicago, Ten Years After " etc.
Doch da war für einige Minuten lang, für einen winzigen Moment in der damaligen, nur einen Wimpernschlag ausmachenden bisherigen Lebensbiografie, dieses - dann doch - unvergessene Zusammenspiel von Musik und eigenen Eindrücken, das mich den späteren Welthit der beiden Musiker in einem anderen Licht erscheinen ließ.
Ich sah aus dem Küchenfenster in den verschneiten Garten. Auf eine völlig weiße Fläche, auf der nur winzige Spuren von wohl hungernden und frierenden Vögeln zu sehen waren. Auf die Schnee bedeckten Erhebungen des Weserberglandes und die kahlen Bäume in der Nachbarschaft. Rund herum war nichts zu sehen, nichts bewegte sich, einfach nur Winterstarre. Dann das Lied von Simon & Garfunkel, dass beinahe so klar aus dem Mono - Kofferradio heraus klang, als hätte es die wahre Entfernung zwischen dem illegalen Sender auf Hoher See vor der Küste der Niederlande, nie gegeben.
Mit jeder Sekunde begann ich das Lied mehr und mehr zu mögen. Auch seichte, sanfte Musik kann emotional wirken. Es müssen nicht Gitarrensoli, wummernde Bässe und krachende Schlagzeugpassagen sein.
https://de.wikipedia.org/wiki/Bridge_over_Troubled_Water_(Lied)
Einige Jahre später legte ich mir während meiner Barraszeit die LP von Simon & Garfunkel zu. Ich kaufte sie in einem Plattenshop in Munster / Lager. Die LP war im Preis herunter gesetzt. Die dort enthaltenen Titel waren eigentlich ausgelutscht. Sie erschienen - mutmaßlich - allesamt auch auf diversen Single.
Am 31. August 1974 musste der Piratensender " Radio Veronica " den Sendebetrieb einstellen. Dieses Schicksal traf zuvor auch die berühmteren englischen Stationen.
Damit ging eine Ära zu Ende, die beinahe ein Jahrzehnt andauerte. Die staatlichen Rundfunksender hatten sich längst dem geänderten Zeitgeist und damit auch dem Musikgeschmack angepasst. Für ein Nischenprogramm war deshalb kein Platz mehr. Das anrüchige, das abenteuerliche, das verbotene Senden von nicht erwünschten Musikstücken hatte somit ein Ende.
Die Piraten auf den Radio - Schiffen waren keine mehr. Die Moderatoren in den x-beliebigen Stationen hatten ihnen in erlaubter Weise die Existenzberechtigung genommen. Sie spielten längst jene Musik, die von den faschistoid erzogenen Bundesbürgern und den nicht minder intoleranten Bewohner der Nachbarstaaten als " Hottentottenmusik " verhöhnt wurde.
Am 31. 12. 2015 wurde in Deutschland der letzte Mittelwellensender ( Deutschlandfunk ) endgültig abgeschaltet. Ab 2012 stellten davor alle öffentlich - rechtlichen Radiostationen im MW - Bereich den Betrieb ein. Auch im europäischen Ausland wurden die meisten Stationen abgeschaltet. Die Technik ist heute ein völlig andere, als in den 1970er Jahren. Die damaligen " Piratensender " indes wurden zum Teil wieder reaktiviert und können über ein Internetradio gehört werden.
Simon & Garfunkel wird immer noch gespielt. Wenn auch nicht mehr so häufig und zumeist in " Oldie " - Sendungen.
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