Kette ab!
Bei unserem täglichen Rundgang um den Echinger oder wahlweise den Hollener See ( beides sind bekanntlich ehemalige Kiesgruben ) trafen wir heute Morgen auf einen vielleicht fünf bis sechs Jahre alten Jungen. Er hatte sein Fahrrad auf den Kopf gestellt und werkelte am Hinterrad herum. Als wir uns auf gleicher Höhe befanden, sah ich im erwünschten Abstand von mehr als 1,5 Metern ein wenig neugierig zu ihm herüber. Der junge Radler versuchte - schon ein wenig verzweifelt - das Hinterrad zu drehen. Jedoch ohne Erfolg.
Eigentlich hatten wir den Jungen bereits passiert, als ich nochmals zur Seite schaute. Die Bemühungen des Radfahrers waren immer noch nicht mit Erfolg gekrönt.
Ich erinnerte mich an meine Zeit als Jugendlicher. Als ich im Alter von 14 Jahren war bekam ich mein erstes Fahrrad. Es war mit Sportfelgen ausgerüstet und hatte eine " Torpedo " Dreigangschaltung, zwei Handbremsen, dafür keinen Rücktritt und der Rahmen war silbergrau.
Ich war stolz wie Oskar, als ich meine ersten Runden. Zu Beginn noch ein wenig ungelenk, auf der Feldstraße und später an der Bückeburger Straße drehen durfte.
Zwei Jahre später befand ich mich in der Lehre. Eines Abends sprang bei der Rückfahrt die Fahrradkette ab. Es war bereits Herbst und es regnete, der Wind blies über die Acker an der Bundesstraße 83, die von Bückeburg in Richtung Hameln führt.
Heute wäre dort das Fahrradfahren lebensgefährlich. Die Verbindung von Minden über Bückeburg nach Halen oder Höxter sowie auf die A 2 in Richtung Hannover / Dortmund wird von Zehntausenden Fahrzeugen pro Tag genutzt. Vor mehr als 50 Jahren war der Verkehr auf der B 83 sehr überschaubar.
Ab den frühen Morgenstunden knatterten darauf einige Mopeds herum, deren Fahrer zur Arbeit mussten. Es waren nahezu immer die gleichen Geräusche, die von den Mopeds ausgingen. Manchmal gab es einen Knall, wenn die stinkenden Zweitakter eine Fehlzündung produzierten. Nur selten vernahm ich ein Auto, dass auf der holprigen, mit unzähligen Schlaglöchern versehenen und überall geflickten Asphaltdecke der B 83 entlang fuhr.
Dazu zählte auch die " BMW - Isetta " des übergewichtigen Bademeisters Hansen aus Luhden, die beinahe zusammen brach, wenn sich der Drei - Zentner - Koloss in ihre Kabine wuchtete, um seinen Weg zum Freibad nach Bad Eilsen zu starten, wo er sich dann ächzend aus dem Ein - Zylinder - Viertakt - Gefährt mit seinen 12 / 13 PS ( wegen seiner Leibesfülle wird er wohl das letztere Modell gefahren sein ). Ob er den Kabinenroller, bei dem der Fahrer über eine breite Fronttür einsteigen musste, gebraucht erworben hatte, kann ich - mehr als 50 Jahre später - nur spekulieren. Jedenfalls kosteten die Neu - Modelle zwischen 2.650 bis 2.710 DM, was einem heutigen Preis von mehr als 38.000 Euro ( ! ) entspräche.
Jedenfalls war Hansen nicht mehr in der Lage, mit dem Fahrrad, so wie Hunderttausend andere Westdeutsche zu Arbeit zu fahren. Er hätte es körperlich gar nicht bewerkstelligen können, denn bereits in Luhden, an der Kreuzung von der B 83 zur Bückeburger Straße, wo damals noch eine Gaststätte existierte und dieser Teil sich " Klein Eilsen " nannte, führte ihn sein Arbeitsweg bergan. Diese kleine Steigung wäre für den fetten Hansen zu viel gewesen. Er hätte davor absteigen müssen, um sein Fahrrad zu schieben.
Hansen aber, knatterte mit der " Isetta " links in die Straßeneinmündung in Richtung Bad Eilsen hinein. Vielleicht hat er zuvor den Winker gesetzt oder ist einfach nur - nicht so wie wir Fahrradfahrer es eingebleut bekamen - in die Bückeburger Straße eingebogen?
Einige Jahre später also, ich hatte Bademeister Hansen längst nicht mehr gesehen, weil ich das Freibad in Bad Eilsen nicht mehr betreten hatte, stand ich am rechten Straßenrand der B 83, so auf der Hälfte der Strecke zwischen Bückeburg und Heeßen, die Umrisse der " Luhdener Klippe " wren trotz der einsetzenden Dämmerung und des Regens noch gerade so zu erkennen, und versuchte in gebückter Haltung die abgesprungene Kette meines Sportrades wieder auf das Ritzel des Hinterrades und den Zahnkranz der Kettenblattes zu drücken. Ohne Erfolg.
Ich hätte dazu das Reparaturwerkzeug benötigt, dass bei manchen Rädern hinter dem Sattel in einer schmalen Tasche hinein gelegt wird. Doch eine solche Vorrichtung gab es an meinem 225 DM teuren Gefährt nicht.
Ich stellte das Fahrrad auf den Kopf und versuchte es mit einem alt bekannten Trick. Wenn der Druck des Eigengewichts auf das Hinterrad weg genommen wird, könnte sich die Spannung der Fahrradkette leicht verringern. Aber auch dieser Kniff war nicht von Erfolg gekrönt. Und während ich dort am Straßenrand noch stand, der Regen mir ins Gesicht peitschte und meine Finger schwarz von der Kettenschmiere wurden, nahte ein PKW heran. Der Fahrer hatte mich bereits von weitem gesehen und fuhr über die Gegenfahrbahn an mir vorbei, verringerte dann das Tempo und hielt schließlich an.
Der Mann stieg aus und fragte mich, was los sei, ob ich ein Problem hätte und etwa Hilfe benötige?
Ich antwortete ihm, dass die Kette abgesprungen sei. Er kam auf mich zu. Guckte kurz auf das umgesetzte Fahrrad und ging zu seinem Auto zurück. Dann holte er aus dem Kofferraum des VW Käfer, der sich einst vorne befand, einen Werkzeugbeutel. Mit einem Schraubenzieher drückte er die Kette über den Kranz des Kettenblattes, schob mit der Pedale das Hinterrad weiter und hatte die Kette wieder aufgezogen.
Er erklärte mir danach, dass ich die Fahrradkette zu Hause neu spannen müsse, weil sie zu locker sei. Ich bedankte mich vor Freude strahlend. Dann fuhr der Käfer mit dem Retter aus der Not weiter in Richtung Luhden oder Steinbergen. Ich drehte meine Rad wieder um, wischte den Sattel sauber und radelte glücklich über die B 83 zum Elternhaus zurück. Dabei begegnete mir kein einziges Auto mehr. Es war mittlerweile dunkel geworden. Der Regel prasselte immer noch auf mein klitsch nassen Anorak, der längst durch nässt war.
Nachdem ich wieder zu Hause war, zog ich mich um und holte das Werkzeug zum Kette spannen aus dem Schuppen.
Mehr als 50 Jahre später drehte ich mich nun zu dem Jungen hin und fragte ihn: " Kette ab! " Er sah traurig aus, irgendwie zeigte mir sein leicht verzweifelte Gesichtsausdruck, dass er von mir Hilfe erwartete. Ich ging auf ihn zu. " Geh´mal bitte ein wenig zur Seite! ", bat ich ihn. Er wusste sofort, was ich meinte. " Corona ", eben! Schnell hatte ich sein Problem erkannt. Er versuchte, so wie ich einst, die Fahrradkette auf eine falsche Methode wieder aufzuziehen. Ich nahm die Kette des Kinderfahrrads zwischen die Finger meiner rechten Hand und hielt mit der linken Hand das Hinterrad fest. Dann schob ich die Kette auf den Zahnkranz. Langsam führte ich sie zum Kettenblatt, drückte sie auf einen Teil des Zahnkranzes und hielt sie mit links fest, um mit der rechten Hand die Tretkurbel nach vorne zu drücken. Schwupp, die Kette war drauf.
Inzwischen kam seine Mutter auf uns zu. " Vielen Dank! Er hat gesagt, er kann das selber. Er fährt aber auch immer so wild! ". Ich drehte das Kinderfahrrad um und antwortete ihr dabei. " Bitte! Die Kette ist ein bisschen zu locker. " Ich empfahl ihm nach dem Small Talk mit seiner Mutter, dass er seinen Vater bitte möge, das Hinterrad ein wenig zu versetzen, damit die Kette gespannt werden kann.
Strahlend fuhr er davon.
Seine Mutter bedankte sich nochmals und wünschte uns einen schönen Tag.
Wenn " Kette ab " zu einem riesigen Problem wird, ist jeder für eine helfende Hand dankbar.
SIDDHARTHA - The Explorer - 1998:
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