Das Wochendhaus von Konsul Pfingsten aus Hannover oder: " Eins - Zwei - Drei - Vier, Eckstein... ! "










Vor einigen Tagen beobachtete ich während meiner Gartenhütten - Verschönerungsarbeit einige Schulkinder aus der Nachbarschaft, die sich mit der üblichen lautstarken Unterstützung beim Hochklettern am aufgeschütteten Kiesberg auf der gegenüberliegenden Grundstücksseite ausprobierten. Nach mehreren Anläufen und unter Einsatz der letzten Kräfte, gelang es dem Trio die Spitze des künstlich angelegten Berges, wohl eher Hügels, zu erreichen. Die luftige Sommerkleidung war dementsprechend verschmutzt. Grinsend gab ich dazu den Kommentar: " Na, der wird sich jetzt eure Mutter freuen! " ab. Ob sie meine Bedenken als solche verstanden hatten, war allerdings nicht so richtig klar.
Die Kindererziehung heutzutage ist überwiegend eine andere. Eher lax und ohne Angstmacherei; obwohl die Statistiken zur häuslichen Gewalt an den Kindern gestiegen sein soll.

Wie dem auch sei, die zunächst vergeblichen, jedoch intensiven Bemühungen der drei Jungs, den Kiesberg zu erklimmen, ließen bei mir Erinnerungen an meine eigenen Kinderzeiten wach werden.

Damals, so in den frühen 1960er Jahren, waren wir als Kinder schon mit recht einfachen Spielmöglichkeiten zufrieden. Diese fanden zumeist im Freien statt. Die elterlichen Wohnungen ließen es kaum zu, dass sich ein halbes Dutzend Freunde und Nachbarkinder dort aufhalten konnten. Ferner erlaubten viele Eltern das Spielen mit einer ganzen Gruppe innerhalb der eigenen Vier Wände eh nicht.

" Geht nach draußen! ", lautete die ständige, im Befehlston ausgesprochene Anordnung. Wir hatten zu " parieren ". Das bedeutete somit, alte Schuhe anziehen, eventuell noch die ältere Jacke mit nehmen und raus.

Häufig stiefelten wir in Richtung Prasuhn´s Wiese, zur Aue oder zum Schulhof, um uns dort auszutoben. Im Sommer waren diese umfunktionierten Spielstätten alle Male hoch interessant und galten als ein Stück kindliches Abenteuer im ansonsten tristen, eher grauen Alltag. Diese Jahre waren geprägt von anerzogener Bescheidenheit. Kinder liefen im Erwachsenenleben mehr oder minder nebenher. Sie waren nun einmal da und hatten sich damit abzufinden, die Lebensplanung der Eltern zu akzeptieren, nein, sogar sich ihrer unterzuordnen.

Das Elternhaus konnte uns, konnte mir, unisono nicht viel intellektuelles Rüstzeug für das Spätere mit geben. Viele Dinge lernten wir somit über den Freundeskreis, dem auch schon ältere Kinder zugehörten.

Als eines Tages im Frühjahr der ersten 1960er Jahre auf einer Brachfläche der Feldstraße eine Baufirma mit Bagger, LKW und Raupe auftauchte, war das für uns Kinder eine kleine Sensation. Neugierig betrachteten wir das Treiben auf dem einstigen Feld, das zuvor vom Amt in Bückeburg vermessen worden war. Binnen weniger Stunden hatten die riesigen Maschinen eine vielleicht 10 x 10 Meter große Bodenfläche abgetragen. Die Baugrube erschien uns Kindern als tief. Sie wirkte wie ein Krater, sie machte auf uns einen bedrohlichen Eindruck. Baustellen kannten wir zwar, aber die befanden sich nicht in der Nähe des elterlichen Hauses.

Mit jedem Tag danach veränderte die Baustelle ihr Gesicht. Ein hoher Drahtzaun wurde auf gestellt. " Betreten der Baustelle verboten. Eltern haften für ihre Kinder " stand dort auf einem Metallschild. Der Zaun verlief rings um das gesamte Grundstück. Auf dem bald Bauholz, Schalbretter, ein Gerüst und weitere Baumaterialien lagen. Später stand dann ein Mischer dort. Es wurde Sand, Kies und Paletten weise Zement sowie Kalk mit LKW angekarrt. Der Betonmischer ratterte den ganzen Tag und erzeugte einen Höllenlärm. Die gesamte Baustelle war laut - zu laut für uns Kinder. Wir verloren das Interesse an dem neuen auf und an der Feldstraße.

Wochen später, wir hatten die Baustelle längst wieder vergessen, kam eine ältere Nachbarstochter auf die Idee den inzwischen hoch gezogenen Rohbau aufzusuchen. Neugierig folgten wir ihr. Es war Sonntag und es war wie immer ein öder, ein langweiliger Sonntag. Weil beide Elternteile zu hause waren, wurde pünktlich ab 12.00 Uhr Mittag gegessen. Danach durften wir nach draußen zum Spielen. Hausarbeit war in jener Zeit noch nicht abgesagt. Wir waren noch zu jung, um den Abwasch zu erledigen, die Esstöpfe in den Keller zu bugsieren und den Küchenboden abzufegen.

So gingen wir also mit der Nachbarstochter zum Neubau. Sie hatte ein Stück des Stück des Bauzaunes zur Seite gedrückt, so dass wir uns durch den Spalt hindurch zwängen konnten. Neugierig, aber auch ein wenig ängstlich, tippelten wir in das unfertige Haus, um hier zunächst alle Räume zu untersuchen. Das Einfamilienhaus im Bungalowstil war unterkellert. Damit erschien die Wohnfläche noch größer als sie in Wirklichkeit war. Zimmer für Zimmer wurde von uns inspiziert.

Es roch ein wenig muffig, es roch nach Beton, nach abgestandenen Wasser und mehr. Der typische Geruch, der bei einem austrocknenden Neubau eben entsteht und den wir auch kannten. Überall hatten sich Wasserlachen gebildet. Die Kellerdecke war in jeden Raum durch Arm dicke Eisenelemente, so genannte Stempel, abgestützt worden. In einigen Zimmern tropfte noch Wasser von der Decke. Es war kein geeigneter Ort, wo sich Kinder länger aufhalten sollten. Wir verließen das Haus wieder. Die größere Nachbarstochter zog den Zaum hinter sich zu, damit am nächsten Tag kein Bauarbeiter merkt, dass das Gebäude betreten wurde.

Den folgenden Sonntag, es war ja längst Sommer und sehr heiß, kam die größere Nachbarstochter auf die Idee, in dem Neubau Verstecken zu spielen. 

Dieses mal schlichen wir uns über das gegenüber liegende Feld zur rückwärtigen Seite des Baugrundstücks heran. Wieder drückte die Tochter aus dem Nachbarhaus den Bauzaun auseinander und wir quetschten uns durch die so entstandene Lücke. In dem Keller angekommen, erklärte sie uns, wie das Versteckspiel abzulaufen hatte. Einer von uns sollte die anderen Kinder suchen. Dazu musste er sich zuvor mit dem Gesicht zur Wand stellen, die Augen fest zu kneifen und danach folgenden Spruch laut vorsagen:

 "Eins, zwei, drei, vier, Eckstein
alles muss versteckt sein
hinter mir und vorder mir
da gilt es nicht
Ich komme!  "

In dieser kurzen Zeit hatten die anderen Kinder ein Versteck im Keller zu suchen, wo sich sich duckten und ganz klein zu machen versuchten.

Da alle Räume groß genug und mit Baumaterial voll gestellt waren, dauerte es etwas länger bis das Suchende die anderen Kinder aufspürte. das ging natürlich nicht ganz geräuschlos vonstatten. Einige Zeit später, wir hatten auch die erste Etage, die über eine Holzleiter zu erreichen war, zum Versteckplatz auserwählt, wurden die beiden Jungs aus dem gegenüber liegenden Haus von dem Treiben im Neubau aufmerksam. Sie standen vor dem Zaun und wollten mitspielen.

Nun waren wir bereits sechs Kinder. Dementsprechend dauerte das Versteckspiel jedes Mal länger. Der dabei übliche Geräuschpegel wurde größer. Und so kam es, wie es in solchen Fällen nicht selten vorkam: Die Mutter der hinzu gekommenen Nachbarskinder hörte uns zufällig im Bau herum toben. Sie stand plötzlich am Metallzaun und rief mit lauter, energischer Stimme: " Was macht ihr da? Kommt da sofort wieder raus! ".

Kaum hatte wir die Stimme vernommen, liefen wir zum rückwärtigen Kellerzugang, um von dort über das hinter liegende Feld das Grundstück zu verlassen. Wir wollten vermeiden, dass die Mutter der beiden Jungs aus dem gegenüber liegenden Haus uns sieht. Langsam schlichen wir uns von dem Neubau - Grundstück und hockten uns hinter den folgenden Gebüsch. Wir warteten. Doch niemand kam. Die Gefahr schien vorüber zu sein. Doch sieh kam einige Tage später.

Die besorgte Mutter der beiden mit spielenden Jungs traf unsere Mutter zufällig im Ort und erzählte ihr, dass sie uns beim verbotenen Spielen auf dem Neubau ertappt habe. Es dauerte bis zum folgenden Abend, ehe wir eine Standpauke bekamen. Wir hätten dort nichts zu suchen, es sei zu gefährlich für uns und schließlich würde das Haus einem Konsul Pfingsten aus Hannover gehören, mit dem sie keinen Ärger haben wolle.

Tja, so war die Gesellschaft bereits damals. 

Irgendwann im Spätherbst war der Neubau fertig. Der Konsul Pfingsten aus Hannover zog dort ein und nutzte das Haus, das aus Fertigbauteilen bestand, als Wochenenddomizil. Wir sahen den Dienstwagen des weiß - haarigen Herrn nur ein paar Mal vor dem Grundstück stehen. Eine schwarze Mercedes - Limousine an der eine Standarte des Bundesrepublik angebracht war. Sie sah schon imposant aus, wenngleich das Ambiente drumherum nicht gerade staatstragend war. Die Feldstraße hatte damals keinen gut befestigten Gehsteig, keinen durchgängigen Teerbelag und der Rinnstein endete dort, wo die Ortsgrenze zu Heeßen began. Es sah aber nicht nur dort immer noch ein wenig wie nach Kriegsende aus.

Dieses änderte sich alsbald. Ob Herr Konsul Pfingsten aus Hannover an den richtigen Stellschrauben der Gemeindepolitik gedreht hat, muss ich fast 60 Jahre danach immer noch als rein spekulativ hinstellen. 



ZEN BISON  -  Krautrocker  -  2018.






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