Geschichten aus der Straßenbahn: " Kannst´e mal den Hebel los lassen? "



Als ab 1993 die ersten Niederflurtriebwagen vom Typ GT8N von der Bremer Straßenbahn AG ( BSAG ) gekauft und eingesetzt wurden, waren die Stunden der quietschenden, knarrenden, scheppernden Bahnen der Modelle GT4a bis GT4c gezählt.
Sie wurden sukzessive ausgemustert und konnten sogar noch nach Timisoara in Rumanien verkauft werden.

Von diesem Jahr an, ging es auf dem Schienennetz der BSAG wesentlich ruhiger zu. Aber auch innerhalb der Züge war es leise. So leise, dass die röhrenden Walkman der Jugendlichen und Berufsjugendlichen oder die Horden daddelder Game Boyaner zu einem stetigen Ärgernis in den Bahnen wurden. Alsbald herrschte ein Verbot, den Walkman bis zum Anschlag aufzureißen, um die wummernden und kreischenden Töne auch über alle anderen Mitfahrer verteilen zu können. Die - dat ist selbstredend - den eigenen Musikgeschmack natürlich nicht teilten. Auch das Verzehren von Eis und sonstigen Fast Food Fraß wurde gleichzeitig untersagt.


https://de.wikipedia.org/wiki/Straßenbahn_Bremen#Fahrzeuge

Es war an einem Freitagmorgen als ich in einem der neuen Niederflurtriebwagen der Linie 10 vom Hauptbahnhof in Richtung Malerstraße in Bremen - Hastedt fuhr. Ich hatte eine damals vierjährige Tochter mitgenommen, die sich auf einen kleinen Einkaufsbummel in dem in der Nähe liegenden " Minimal " - Markt freute. Doch zuvor wollte ich noch für ein paar Minuten in das Büro, um dort meine Post zu sichten. Bereits nach der Haltestelle St.-Jürgen - Straße wurde die Bahn zusehends leerer. So konnte ich jetzt getrost meinen " SPIEGEL " heraus holen und einige Minuten lesen. Meine Tochter hatte ich dabei immer im Blickfeld. Und die erkundete jetzt die Straßenbahn in ihrer gesamten Länge.

Während ich auf den neuen, sauberen, bequemen Vierersitz saß, meine Lektüre las, untersuchte Fräulein Tochter das Innenleben der Bahn. Dabei muss sie den roten Notbremshebel entdeckt gehabt haben. Jedenfalls - pfiffig, wie Kinder in einem solchen Alter nun einmal sind - zog sie sich an einer Sitzschale auf die dahinter liegende Innenverkleidung hoch und konnte so auf diesem Aufbau stehen. Von dort hangelte sie sich zu dem Griff der Notbremse und zog an dieser herum.

Ich hatte dieses zunächst nicht bemerkt. Plötzlich machte sich der Straßenbahnfahrer bemerkbar. Er sagte in einem freundlichen, aber bestimmenden Ton: " Kannst é mal den Hebel los lassen? " Ich schreckte hoch, schaute nach oben und erkannte gleich, was er mit dieser Aufforderung meinte. Töchterchen hing mit beiden Händen an dem rot lackierten Griff und zog diesen kräftig nach unten. Die Bahn musste automatisch die Geschwindigkeit drosseln und der Fahrer erhielt deshalb auf seinem Display eine entsprechende Meldung. Er hatte sofort in seine Innenspiegel geschaut und dabei erkannt, dass meine Tochter an dem Notbremshebel hing.

Ich schoss, wie von der Tarantel gestochen, von meinem Sitz hoch, schnellte blitzschnell in Richtung der immer noch am Hebel hängenden Tochter, zog sie von dem Innenaufbau weg und ranzte sie mit den Worten: " Lass´das sein! " an. Dann entschuldigte ich mich bei den Fahrer. Der grinste breit und sagte nur: " Ist schon gut! ".
Wahrscheinlich war er selbst Vater und wusste, dass Kinder in diesem Alter eben nur Experimente im Kopf haben.

Als wir an der Haltestelle Malerstraße angekommen waren, stiegen wir aus, gingen zum Büro und anschließend zum Supermarkt. Ich verlor kein Wort mehr über den eher peinlichen Vorfall. Denn eigentlich war es meine Schuld, weil ich meine Tochter hätte genauer beobachten müssen.

Immer, wenn ich den Notbremshebel in einer der neuen Züge sah, musste ich an diesen Vormittag denken, an dem meine Tochter die hoch moderne Bahn ausbremste.


" Moonwagon " - " Past Moves " - " Foyers Of The Future " - 2012:


 

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