Risto L. oder: ne bis en idem
Das Jahr 2019 ist ja erst 45 Stunden alt, aber dennoch brachte es bereits wieder Überraschungen. Da las ich heute in den frühen Morgenstunden ein weiteres Kapitel in dem Buch des Strafverteidigers von Schirach und kam aus dem Staunen nicht heraus. Alles, was der werte Herr Kollege dort schilderte, kam mir seltsam bekannt vor, aber so ich hatte es noch nie gelesen.
Die Geschichte ist schnell erzählt. Ein Filialleiter eines Supermarktes in Berlin wird eines Abends in seinem Stammrestaurant Zeuge eines Drogengeschäfts. Er entdeckt den " Bunker " im Keller seines Wohnhauses und entschließt sich, das Drogengeschäft selbst zu machen. Hierzu soll ihm der Betreiber des Restaurants behilflich sein. Nachdem er diesen von der Ernsthaftigkeit seines Ansinnens und nach zu vielen Glas Raki überzeugen konnte, ruft dieser jene Drogenhändler an, die er zuvor in dem Lokal gesehen und beobachtet hatte. Diese erscheinen bei der Übergabe. Das Geschäft platzt deshalb. Auf der Flucht vor den Drogenhändlern fährt der Filialleiter mit seinem PKW gegen einen Brückenpfeiler. Er liegt schwer verletzt im Krankenhaus, als ihn später die Polizei vernehmen will, wird ihm Drogenhandel zur Last gelegt. Es ergeht ein Haftbefehl. Er kommt später in die Untersuchungshaftanstalt.
In dieser Zeit erhält er einen Strafbefehl wegen der Trunkenheitsfahrt. Er soll eine Geldstrafe zahlen und ihm wird die Fahrerlaubnis entzogen. Er akzeptiert die Strafe. Der Strafbefehl, der ja wie ein Strafurteil wirkt, wird rechtskräftig.
Als er einige Zeit später wegen des ihm vorgeworfenen Drogenhandels angeklagt wird, nimmt das Strafverfahren vor dem Berliner Kammergericht für ihn ein überraschendes Ende. Das Verfahren wird eingestellt, der Mann aus der Untersuchungshaft entlassen, weil er bereits wegen der Taten verurteilt worden ist.
Die chronisch überlastete Berliner Strafjustiz hatte geschlafen, geschlampt, gepennt. Eigentlich hätte das Verfahren wegen Trunkenheit am Steuer eingestellt werden müssen, da die dort zu erwartende Strafe gegenüber der aus dem Drogendelikt nicht mehr ins Gewicht gefallen wäre. So aber war es umgekehrt. Der Mann darf aber nach dem Verbot der Doppelbestrafung für die selbe Tat nicht noch einmal verurteilt werden.
Die Trunkenheitsfahrt mit den dabei im PKW aufgefundenen Drogen war eine Handlung, die im Sinne der Strafgesetze, demnach auch nur ein Mal bestraft werden kann. Das erfolgte - wenn auch zu voreilig - durch das Amtsgericht Berlin - Tiergarten. Das war´s dann!
Als ich das Kapitel zu Ende gelesen hatte, kam in mir eine leichte Freude auf. Diese geldgeilen A... in der Bundeshauptstadt Berlin - dachte ich so bei mir. Lieber kassieren sie mehr als 2.000 Euro von dem Angeklagten, statt ihm für mehrere Jahre ins Kitchen zu bringen. Was natürlich noch einige Zehntausend Euro gekostet hätte. Oder war es einfach nur dem Umstand geschuldet, dass in diesem Strafjustiz - Moloch die eine Hand nicht wusste, was die andere noch tun würde.
Wie dem auch sei, ich jubilierte und legte das Buch zur Seite. Dabei fiel mir ein ähnlicher, wenn auch wenig spektakulärer Fall aus meiner einstigen Praxis ein.
Es war zum Ende der 80er oder zu Beginn der 1990er Jahre. Ein Kollege aus Achim bei Bremen rief mich in den späten Abendstunden in der Kanzlei an. Diese lief damals eher schlecht als recht. Ich war auf jedes Mandant angewiesen, um beim " Aldi ", " minimal " oder später " Lidl " mein Brot kaufen zu können. Der Leidensgenosse und einstige Mitbewohner im Studentenheim hatte sein Büro zusammen mit einem weiteren Absolventen der Juristenausbildung an der Bremer Uni in der Kleinstadt Achim bei Bremen eröffnet. Der Schuppen lief noch schlechter als meiner. So schanzten wir uns in der Not ab und zu Mandanten zu.
An jenem Abend irgendwann im Herbst des ausklingenden Jahres, erschien dann der Achimer Kollege mit dem Mandanten weit nach 18.00 Uhr in meinem Büro. Ich bot beiden einen Kaffee an. Der Mandant wäre beinahe mit dem billigen " IKEA " - Stuhl zusammen gebrochen, denn der wackelte bedenklich. Er wirkte auf mich arrogant, weil er versuchte mit dem Schlüssel seines großen BMWs, den er vor dem Bürofenster geparkt hatte, die lockere Schraube des " IKEA " - Stuhls festzuziehen.
Okay, das kam bei mir nicht gut an. Aber, bitte schön, DM sind DM. Und die winkten in diesem Fall.
Risto L. war gebürtiger Finne. Er lebte jedoch schon lange in Deutschland und sprach nahezu akzentfreies Deutsch.
Risto L. aus der Nähe von Tampere hatte nach dem Zusammenbruch des so genannten Warschauer Pakts, also der östlichen Hemisphäre, ein neues Geschäftsfeld entdeckt. Er kaufte Unfallautos in Deutschland auf, ließ diese von einem Sachverständigen als wirtschaftlichen Totalschaden testieren, holte sich eine Einfuhrgenehmigung der finnischen Zollbehörden, schipperte den vermeintlichen Fahrzeugschrott über Estlands Fährknotenpunkt Tallinn nach Finnland, wo er die überwiegend sehr hochwertigen PKWs in seiner Werkstatt reparierte. Sodann verkaufte er die Fahrzeuge mit einem exorbitant hohen Gewinn an einen Interessenten.
Hierzu fingierte Risto L. Verkehrsunfälle. Er fuhr verschiedene, dann jeweils Vollkasko versicherte PKW gegen ein anderes Fahrzeug und kassierte zudem noch die Summe von seiner Versicherung. Dieses Geschäftsmodel funktionierte allerdings nur über einen sehr kurzen Zeitraum.
Wegen der Vielzahl der registrierten Verkehrsunfälle geriete der Finne bald in das Visier der Verkehrsbehörden. Nicht nur die fällig werdenden Bußgelder aufgrund zahlreicher Ordnungswidrigkeiten drohten dem Mann und seinem betrügerischen Geschäftsmodel den Garaus zu machen, nein, Risto L. fuhr mit seinem hochpreisigen BMWs auf den Straßen dieses, unseres, alsbald wieder vereinigten Landes, auch noch " wilde Sau ". Was in seinem Heimatland, in dem die Asphaltpisten zwar schnurgerade durch einsame Wälder, an noch klaren, sauberen Seen und an kleineren Ortschaften vorbei führen, jedoch einer strikten Geschwindigkeitsbegrenzung von 90 Km / h unterliegen, eben nicht möglich ist. Somit gab es für den verkappten Häkkinen, Kinnunen oder Salo nichts zu bestellen.
Es bestand eher die Gefahr, dass der PS starke BMW sich unversehens mit einem gemütlich über die leeren Straßen schleichenden Elch knutschen könnte, als dass er in dem mäanderartigen, allerdings dann auch wellenförmigen Straßenverläufen, einen Geschwindigkeitsrekord erzielen könnte.
Risto L. jedenfalls nutzte lieber den ihm zugebilligten Verfassungsgrundsatz der " freien Fahrt für freie Bürger " auf den Autobahnen und sonstigen Straßen im Land der Teutonen.
Dann jedoch schien es damit endgültig vorbei zu sein. Der Finne geriet in eine stationäre und sogar scharf gestellte Radarfalle. Es hagelt nicht nur ein - für skandinavische Verhältnisse dennoch moderates - Bußgeld, sondern auch ein einmonatiges Fahrverbot. Der Bußgeldbescheid aus dem fernen Hessen kommend, wurde rechtskräftig. Risto L. hätte längst seinen " Lappen " bei der Verkehrsbehörde in Achim, wo er polizeilich gemeldet war, abgegeben müssen. Doch der Finne blieb stur. Die Mühlen der Verwaltung waren einst noch sehr langsam. Ehe eine Polizeistreife bei Risto L. vorstellig geworden wäre, hätte es einst einige Wochen gedauert.
In der Zwischenzeit fuhr Risto L. weiterhin, immer durch sein noch funktionierendes Geschäftsmodel getrieben, fleißig durch die westdeutschen Lande und wurde beim Überfahren einer roten Ampel geblitzt. Jetzt war Not am Mann. Er suchte den Kollegen B. in Achim auf, den er von seinen Kneipenbesuchen kannte und schilderte diesem sein Anliegen. Kollege B. war nicht ganz ungeschickt bei der Suche nach einer Lösung aus dem Dilemma. Er ließ eine Vertretungsvollmacht von dem Finnen unterschreiben, rotzte einen Zweizeiler in das Diktaphon, kassierte von dem Mandanten die Fahrerlaubnis und schickte seine Azubine direkt zur Straßenverkehrsbehörde. Dort übergab sie mit dem Rechtsanwaltsschreiben die Fahrerlaubnis.
Damit war ein Problem gelöst.
Auch bei dem zweiten Rechtsfall war Kollega B. sehr pfiffig. Er wusste ja, dass L. ohne eine gültige Fahrerlaubnis den Rotlichtverstoß begangen hatte. Was dann die Konsequenz nach sich ziehen würde, dass ein weiteren Verfahren auf Risto L., nämlich eine Strafverfahren wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis, nach sich ziehen würde. Aber auch Rechtsanwalt Johannes B. hätte möglicherweise Probleme mit der Strafjustiz bekommen können. Dann nämlich, wenn er für den Mandanten in dem anderen Bußgeldverfahren tätig geworden wäre.
So fuhren Risto L. und mein damaliger Kollege in mein Büro. Rechtsanwalt B. schilderte mir den Fall und bat mich für seinen Mandanten per Telefax eine Rechtsmittelverzichtserklärung an die Bußgeldstelle in Verden abzugeben. Ich hakte nach. Warum will der Mandant sich nicht gegen den Bußgeldbescheid zur Wehr setzen. Zu jener Zeit war die in den so genannten Starenkasten eingebaute Technik umstritten, weil eher unzuverlässig. Doch Kollege B. bügelte meinen Einwurf ab. Ich ließ nicht locker, weil mir die ganze Sache nicht astrein vorkam. Warum ich denn jetzt die Erklärung abgeben solle, wollte ich immer wieder wissen.
Rechtsanwalt B. begann zusehends zu schwimmen. Er eierte herum und behauptete schließlich, er könne mir das jetzt nicht sagen, weil die Sache " geheim " sei. Risto L. unterschrieb mir eine Strafprozessvollmacht. Ich warf die elektrische " Olympia " - Schreibmaschine meiner Azubine an, spannte einen Kanzleibogen ein und hämmerte los.
" An die Stadt Verden, Verkehrsordnungsbehörde, Bußgeldstelle, .... Verden / Aller .... . In der Bußgeldsache des Herrn Risto L. wegen des Verdachts des Verstoßes nach ...... OWiG, zeige ich an, dass mich der Betroffene beauftragt hat. Vollmacht liegt an. Hiermit erkläre ich namens und in Vollmacht des Betroffenen, den Verzicht auf Rechtsmittel gegen den obigen Bußgeldbescheid. .... "
Ich las dem Mandanten das Schreiben vor und fragte ihn, ob dieses so gesendet werden solle, Er gab sein Okay. Dann unterschrieb ich den Wisch, tippte die Nummer in das Faxgerät, legte das Schreiben und die Vollmacht in Schuber und drückte auf Senden. Das Gerät ratterte los. Binnen weniger Sekunden war das Schreiben " durch ". Das war´s.
Der Finne hatte Glück gehabt. Denn mit dem Zugang der Erklärung stand auch fest, dass er strafrechtlich wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis nicht mehr belangt werden konnte. Wir nennen das Strafklageverbrauch. Ein Konstrukt, das von dem Grundsatz des verfassungsrechtlich garantierten Verbot einer Doppelbestrafung ( lateinisch: " ne bis en idem " ) abgeleitet worden ist. Rechtsdogmatisch bedeutete dieses, dass Risto L. bereits durch den - dann rechtskräftig gewordenen - Bußgeldbescheid wegen Überfahrens einer roten Ampel durch die Justiz sanktioniert worden ist; egal, ob er zu diesem Zeitpunkt eigentlich mit einem Fahrverbot belegt war.
Mit der verhängten Strafe in dem Bußgeldbescheid war die Tat gesühnt. Eine weitere Bestrafung sieht unser Rechtssystem nicht vor.
Ich legte das Buch des Kollegen von Schirach zur Seite und musste innerlich immer noch grinsen. " Das hat er super beschrieben. " , dachte ich noch. Ein exzellenter Strafverteidiger und Buchautor.
Übrigens: Nachdem der Finne meine eher lausig niedrige Gebührenrechnung mit der Post zugesandt bekam, erhielt ich einige Tage später eine Überweisung von einer mir unbekannten Frau aus Achim. Auf dem Kontoauszug war zu lesen: " In Sachen Risto L. ". Aha, von daher wehte der Nordwind. Der Finne war also nicht nur lappen - sondern auch kontolos gefahren. Eigentlich war ich schon damals zu gut für die Welt. Ich hätte ihm eine knackige Honorarvereinbarung unterjubeln müssen.
Takis Barbagalas " Phosphorus Pt. III. " - " Phosphorus Hesperus " - 2015:
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