Mai 2020: Keine gute Zeit zum Sterben.



Heute Morgen las ich einen Artikel über die Geschichte zu einem der vielen " Corona " - Toten in Deutschland, die im Mai dieses Jahres bestattet werden mussten. Sie handelt von einem türkischen Mann aus Hamburg und behandelt die oft widrigen Umstände, mit denen die Angehörigen zu kämpfen hatten, wenn eine Beerdigung erfolgte.

Geschrieben und geschildert hat diese Geschichte Özlem Gezer. Die jetzt 38jährige Journalistin arbeitet für das Hamburger Nachrichtenmagazin ( https://de.wikipedia.org/wiki/Özlem_Gezer ).

Ein Freund ihres ebenfalls in Hamburg lebenden Vaters ist verstorben. Sie ale kannten ihn nur unter den Namen " Onkel Erdogan ".

Der Verstorbene arbeitete viele Jahre als Brenner auf einer Hamburger Werft. Mutmaßlich erkrankte er dadurch an der Lunge. So, wie andere in den 1970er Jahren auch.

Onkel Erdogan wurde 1952 in der Türkei geboren.


In dem Artikel, der die Überschrift „ Elveda, Onkel Erdogan „ trägt, beschreibt die „ SPIEGEL „ – Journalistin jene Zeit, die vielen Jahre vor dem Tod des jetzt Verstorbenen. Der – so wie vor und auch nach ihm viele seiner Landsleute – als junge Menschen, vornehmlich junge Männer, vor der Armut und Tristesse in Ostanatolien fliehend, nach Westdeutschland kamen, in das gelobte Land, weil es hier Arbeit gab. Mit dem dann verdienten Geld fuhren sie später in den Sommermonaten, wenn Werksferien waren oder auch Schulferien, zurück in ihre Heimat. Die Fahrt dauerte dabei mindestens zwei Tage. Selbst in einem gebraucht gekauften Mercedes der E – Klasse, der geräumig war, um all jene Dinge dabei mitzunehmen, die es in dem östlichen Teil des Türkei damals noch nicht gab.

Der in Deutschland erarbeitet Wohlstand wurde in ihr eigentlich gebliebenes Lebensumfeld, in die Türkei, transferiert. Häufig sind aber auch die Familien den Männern nachgereist. Die türkischen Frauen und Männer waren in Westdeutschland sehr oft nur die „ Gastarbeiter „, solche Menschen, die nur geduldet, mit einer befristeten Aufenthaltserlaubnis, bestenfalls einer Aufenthaltsberechtigung, hier der Arbeit nachgingen. So, wie es ihnen zuvor die Italiener, die Spanier und Portugiesen vorgemacht haben.

Diese „ Fremden „ blieben es zumeist auch. Sie arbeiteten – im günstigeren Fall – bis zur Rente, oft aber wurden sie so genannte Frührentner, weil sie körperlich ausgepowert, verbraucht, nicht mehr für den Arbeitsmarkt geeignet waren.

Frau Gezer beschreibt dieses in dem Artikel so ähnlich. Sie erklärt darin, wie es bei dem Verstorbenen war. Der war seit Jahren an Lungenhochdruck erkrankt. Die Ärzte konnten für ihn nichts mehr tun, nur noch die Schmerzen lindern. Onkel Erdogan benötigte zuletzt ein Beatmungsgerät. In seinem Zimmer lagerten deshalb Sauerstoffkanister. Er war aber tapfer, ja sogar zäh, und kämpfte 6 Jahre lang gegen den schleichenden Tod.
Im Frühjahr 2020 musste er für einen längeren Zeitraum erneut stationär in ein Krankenhaus verbleiben, weil es ihm gesundheitlich schlecht ging.

Dann flog ab Frühjahr „ Corona „ in Deutschland ein. Die Restriktionen begannen.  Der engste Familienkreis zog zu Onkel Erdogan, weil seine Frau, die Mutter seiner kurz zuvor eingezogenen Kinder,  es mit den anstrengenden Pflegearbeiten nicht mehr allein schaffte. Es war ein Risiko für den schwerkranken Onkel Erdogan, der an einem Donnerstag im April verstarb.

Die Journalistin schildert danach, wie sie die vielen Erinnerungen aufleben lässt. Jene Erlebnisse, so wunderbar klar wieder gegeben, dass ich mich beim lesen ihres Artikel selbst wieder finde. In jene Zeiträume, in denen ich sowohl als Student, aber auch als praktizierender Rechtsanwalt, Hunderte unserer türkischen Bürgerinnen und Bürger kennen gelernt habe. Ich erinnere mich an Tausende Gespräche, in denen es um ihre Kultur, ihre Musik, ihre Sorgen, Freuden, Ängste und Leiden hier, aber auch in der Türkei ging. All dieses spülte der Artikel von Frau Gezer wieder hoch.

Der Tod, der auch dabei öfters vorkam, der unausweichlich, wie das reale Leben in der Fremde, in der Wahlheimat, war, er macht bei den Menschen keinen Unterschied. Er tritt plötzlich, unverhofft auf, er verläuft nicht selten schleichend oder er kommt häufig als Erlösung. Ob nun von einem sehr hohen Alter und den damit einher gehenden Einschränkungen oder ob von einer gnadenlos verlaufenden Krankheit.

Corona ist nur ein Synonym für den Sensenmann. Eine unsichtbare Gefahr also, der überwiegend ältere Menschen ausgesetzt sind. Corona könnte auch diesen Menschen beinahe nichts mehr anhaben. Mit dem jetzigen Wissensstand, der uns die eindeutigen Vorgaben erteilt, den Mindestabstand einzuhalten und zudem einen Mundschutz zu tragen, bestimmte Hygiene – Empfehlungen einzuhalten, wäre dieses Virus unter Kontrolle zu bekommen. Doch nicht alle Menschen halten sich daran.
Corona verlangt aber nicht nur den Lebenden hier viel ab. Die Bestimmungen lassen auch bestimmte Rituale für die Verstorbenen nicht mehr zu. Beerdigungen dürfen zeitweise nur unter strengen Auflagen erfolgen. Menschengruppen von mehr als 10 waren dabei untersagt. Es gab Sanktionen von Papa Staat, der durchgegriffen hatte, wenn jene Regeln überschritten oder durchbrochen wurden. Geldstrafe, Strafverfahren, Strafanzeigen waren die Folge.


Muss ein Rechtsstaat auch in die Würde eines Verstorbenen so eingreifen? Nein!

Am 7. Mai 2020 wurde Onkel Erdogan beigesetzt. An der Beerdigung nehmen 60 Personen teil. Erlaubt waren – als Sondergenehmigung – nur 20 Anwesende. Am Nachmittag des selben Tages findet die öffentliche Beisetzung des verstorbenen Ex – Ministers Norbert Blüm in Bonn statt. Im Fernsehen werden Bilder von Hunderten Trauergästen gezeigt.

Corona und der Tod. Auch hier sind nicht alle gleich.

Die Geschichte zum Tod von Onkel Erdogan hätte dieses wieder einmal bewiesen. Aber nicht nur deshalb danke ich der „ SPIEGEL „ – Mitarbeiterin Özlem Gezer für ihren Beitrag – er hat mir geholfen, das Vergessene wieder aufleben zu lassen und das ständig wieder Auflebende zu vergessen.




DIRE STRAITS  -  You And Your Friend  -  On Every Street  -  1991:



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